"Wegen der Wohnungsnot ist das letzte Loch begehrt"
Stadtplaner Ernst Hubeli fordert Enteignungen - "Der freie Markt hat versagt" - Seine Empfehlung für Heidelberg: Wohnungen zurückkaufen und den Billigtourismus verteuern

Von Sebastian Riemer
Heidelberg. Das Recht auf Wohnen steht auf dem Spiel, weil Wohnungen viel zu teuer sind und am Bedarf vorbeigebaut werden. So lautet die Kernthese des Schweizer Stadtplaners Ernst Hubeli, die er in seinem spannenden neuen Buch "Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert" untermauert. Ein Gespräch mit dem Kuratoriumsmitglied der Internationalen Bauausstellung (IBA) Heidelberg über einen Wohnungsmarkt außer Rand und Band, die IBA, Billigtourismus – und Tipps für die Heidelberger Kommunalpolitik.

Herr Hubeli, in Heidelberg und vielen anderen europäischen Städten können sich viele keine Wohnung mehr leisten. Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Mit der Deregulierung des Wohnungsmarktes hat dieser sich seit den 1990er Jahren auch ökonomisch radikalisiert. Zugleich wurde in vielen Städten Gemeineigentum privatisiert. Der globale Immobilienmarkt ist heute selbst aus der Innensicht "out of control". Immobilien existieren vielfach nur noch als abstrakte Börsenwerte. Binnen einer Stunde können ganze Stadtteile 35 Mal verkauft, gekauft oder verschuldet werden. Die künstliche Börsen-Intelligenz bestimmt die Performance, nicht mehr der "böse Spekulant". So wurden in einer Großsiedlung der Firma Blackstone in New York neulich die Mieten für 1000 Wohnungen automatisch um 30 Prozent erhöht. Das mussten sie dann rückgängig machen – weil viele Bewohner 90 Prozent ihres Einkommens für die Miete hätten aufwenden müssen.
Hintergrund
> Der Schweizer Architekt und Stadtplaner Ernst Hubeli war viele Jahre Leiter des Instituts für Städtebau an der Technischen Universität Graz. Seit 1982 ist er Mitinhaber des Architekturbüros Herczog Hubeli in Zürich, das nicht nur für zahlreiche Bau- und Stadtteilprojekte
> Der Schweizer Architekt und Stadtplaner Ernst Hubeli war viele Jahre Leiter des Instituts für Städtebau an der Technischen Universität Graz. Seit 1982 ist er Mitinhaber des Architekturbüros Herczog Hubeli in Zürich, das nicht nur für zahlreiche Bau- und Stadtteilprojekte verantwortlich zeichnet, sondern auch diverse Publikationen zu Architektur und Städtebau veröffentlicht hat. Hubeli war 18 Jahre Chefredakteur der renommierten Schweizer Fachzeitschrift "Werk, Bauen + Wohnen". Der 72-Jährige setzt sich in seiner Forschung seit vielen Jahren mit der sich verändernden europäischen Stadt auseinander. Im Kuratorium der Internationalen Bauausstellung Heidelberg sitzt er seit dem Start im Jahr 2012.
> Die Internationale Bauausstellung (IBA) Heidelberg trägt das Motto "Wissen schafft Stadt" und dauert von 2012 bis 2022. Ihre Kernfrage: Wie muss sich die europäische Stadt ändern, um den Anforderungen der Wissensgesellschaft von morgen gerecht zu werden? Die IBA soll städtebauliche, kulturelle, wissenschaftliche, soziale und wirtschaftliche Potenziale ausschöpfen. Zum Schwerpunkt der IBA hat sich die Entwicklung der ehemaligen US-Siedlung Patrick-Henry-Village zum "Stadtteil der Zukunft" entwickelt. Zudem gibt es 22 Projekte und Kandidaten, die zum Teil schon gebaut, zum Teil in der Planung sind – etwa der Energie- und Zukunftsspeicher im Pfaffengrund oder das neue Haus der Jugend. rie
So verrückt geht es in Heidelberg nicht zu. Dennoch herrscht auch hier Wohnungsnot. Was kann man dagegen tun?
Zum Beispiel nach Wien schauen. Dort ist 65 Prozent des Wohnungsmarktes in der Hand der Stadt oder von Gemeinnützigen, seit 100 Jahren. Alle Erfahrungen zeigen: Der städtische, gemeinnützige Wohnungsmarkt muss den freien Markt dominieren – dann passt dieser sich an. Nicht nur preislich. In Wien wird viel mehr experimentiert mit neuen Wohnformen. Die Immobilienwirtschaft kann hingegen am Bedarf vorbeibauen, weil in der Wohnungsnot jede Wohnung begehrt ist.
Wie meinen Sie das?
Die Wohnungen sind nicht nur viel zu teuer, sie sind auch veraltet. Es wird immer noch das Wohn-Esszimmer-Kinderzimmer-Küche-Bad-Schema in Massen gebaut. Nur: ein Volkswagen, ein Fernseher, ein Blick ins Grüne, zwei Kinder, Mutter am Herd, Vater am Arbeiten – so lebt heute nur noch eine kleine Minderheit! Die meisten wollen längst etwas ganz anderes.
Was wollen die meisten denn?
Immer mehr wollen die Wohnfläche und damit auch die Haushaltsarbeit reduzieren zugunsten des Lebens in der Stadt. Haushaltsenergie fließt in urbane Energie. Öffentliche Orte werden viel intensiver genutzt als noch vor 30 Jahren. Wohnformen, die innen und außen besser kombinieren, entsprechen dem Bedarf. Der Immobilienmarkt hat – abgesehen von Ausnahmen – nicht auf die demografische und die Lebensstiländerung reagiert.
Weil er nicht reagieren muss, da viele Menschen froh sind, wenn sie überhaupt irgendeine Wohnung finden?
Wegen der Wohnungsnot ist – um es drastisch, aber nicht falsch auszudrücken – das letzte Loch begehrt. Unter diesen Umständen müssen Investoren sich auch nicht um Bedürfnisse oder Wohnbauforschung kümmern. Die Industrie ist nicht unter Innovationsdruck. Im Gegenteil: Unter den Bedingungen des knappen Angebotes kann sie die Preise immer weiter hochtreiben.
Sie fordern in Ihrem aktuellen Buch "Die neue Krise der Städte" eine Bodenreform und Enteignungen. Halten Sie das in Deutschland für realistisch?
Das galt mal als linksradikal. Heute hat selbst Herr Seehofer Bodenreformen angekündigt. Und eine Blackrock-Studie kritisiert den globalen Immobilienmarkt als unproduktiv und volkswirtschaftlich schädlich. In Berlin sollen große Wohnungskonzerne enteignet werden. Drei Gutachten haben bestätigt, dass das verfassungskonform ist. Es ist also andersherum: Wenn der freie Markt die Grundversorgung an Wohnraum nicht garantieren kann, dann ist dieser verfassungswidrig. Und: Ständige Mietpreiserhöhungen bei gleichbleibendem Lohn sind auch eine Enteignung – nämlich der Mieter!
Die rechtliche Seite ist die eine, aber halten Sie Enteignungen auch für politisch durchsetzbar?
Die Hindernisse sind klein geworden. Der große Zuspruch für Enteignungen in Berlin kommt vor allem von gewöhnlichen Bürgern, die an einem Montagmorgen schon wieder eine Mieterhöhung im Briefkasten hatten, nachdem sie 20 Jahre lang jährlich zehnprozentige Erhöhungen geduldet haben. Ideologisch unbelastete Vorstandschefs von Baukonzernen sagen auch: Wenn die Miet- und Bodenpreise weiter steigen, kann das so nicht weitergehen.
Enteignung hin oder her: Boden ist ja nicht vermehrbar. In Heidelberg können noch die Konversionsflächen entwickelt werden – danach müsste man auf die grüne Wiese bauen.
Mit Mikroverdichtung, kleineren Umbauten und einer Neuorganisation des Raumes kann man auch im Bestand viel erreichen – 20 bis 30 Prozent Bevölkerungswachstum, ohne dass das groß auffällt im Stadtbild. Das hat eine Studie ergeben, die wir in verschiedenen Städten gemacht haben. Es gibt einen starken Stadtrückwanderungsdruck. Fast alle wollen in die Stadt, weil es dort mehr Bildung, Arbeit, Geselligkeit gibt. Eine weitere Zersiedlung widerspricht den Energiestrategien und ist schlicht nicht mehr bezahlbar. Dieses Szenario ist also wirklichkeitsfremd: Bleibt alle in der Peripherie und wir lassen das "Pendlerproletariat" grenzenlos anwachsen.
Was empfehlen Sie der Kommunalpolitik in Heidelberg?
Die neoliberale Episode zu verabschieden. Die Deregulierung korrigieren, so viel wie möglich zurückkaufen, um die gemeinnützige Macht über den Wohnungsmarkt zu erlangen. Und dazu eine Mikroverdichtung nach innen, die den Vorteil hat: Wenn man ein Stockwerk auf ein Haus draufsetzt oder etwas anbaut, muss man keinen teuren Boden zukaufen – der oft die Hälfte der Baukosten ausmacht. Solche Nachverdichtungen können die Miete oft halbieren.
Und ein Mietendeckel wie in Berlin. Wäre das was für Heidelberg?
Natürlich. Entscheidend ist, dass es eine Miet-Obergrenze gibt, also etwa ein Drittel des Einkommens. Das wird auch in Basel bald eingeführt, weil in einer Volksabstimmung über 70 Prozent dafür gestimmt haben. Mietpreisbremsen ohne Deckel, die es ja auch bei Ihnen gibt, sind wirkungsarm.
Die Stadtspitze in Heidelberg – OB Würzner und Baubürgermeister Odszuck – sagen, Stadt und Gemeinnützige alleine könnten das Bauvolumen nicht stemmen. Man brauche die privaten Wohnungsbauträger, um überhaupt genügend Wohnraum herstellen zu können.
Dass der Markt alles regelt, widerspricht den Erfahrungen der letzten 30 Jahre in allen Städten. Wer dem Immobilienmarkt noch vertraut, ist entweder naiv oder ideologisch verblendet. Solange der freie Markt dominiert, müssen die Gemeinnützigen deren Spiel mitmachen. Sie zahlen einen viel zu hohen Preis, um ein Areal zu kaufen, was hohe Mietpreise erzwingt. Natürlich sind die Gemeinnützigen nicht per se die Lösung. Relevant ist, wie sie sich organisieren und verwalten. Dabei müssen öffentliche Interessen und der soziale Zusammenhalt der Stadt im Vordergrund stehen und nicht nur die Interessen der eigenen Mieter, die da zufällig wohnen. Gemeinnützig ist ja keine moralische Frage beim "Recht auf Wohnen". Es geht gar nicht anders! So wie der Boden nicht aus Kaviarbüchsen besteht, sondern wie Luft allen gehört, die – wenn sie möglichst teuer verkauft würde – die Gesellschaft in eine atmende und eine erstickende Klasse spalten würde.
In Mark-Twain-Village (MTV) entstehen 70 Prozent bezahlbarer Wohnraum – zur Miete und im Eigentum. Aber die Stadtverwaltung sagt, dieses Modell sei nicht bei jedem Neubauprojekt umsetzbar.
Wenn der Gegenbeweis ein anschauliches Beispiel ist, handelt es sich offenbar um eine falsche Behauptung. Es braucht politischen Willen und etwas politische Fantasie. Nicht alle Wohnungen müssen genau diesem Modell folgen. Aber über die Hälfte der Menschen leidet auch in Heidelberg unter der Wohnungsnot – seelisch und ökonomisch. Das haben wir in unserer Studie festgestellt.
Die Altstadt bleibt bei der Internationalen Bauausstellung (IBA) bisher unterbeleuchtet. Aber Sie haben nun gemeinsam mit zwei weiteren Kuratoriumsmitgliedern eine Altstadtstudie gemacht. Was kam dabei heraus?
Dass die Altstadt modern und anpassbar an neue Anforderungen ist. Wichtig ist etwa ein Erdgeschossmanagement. Es braucht neue Spielräume, damit sich innovative Betriebe einnisten können. Die Fast-Food-Imbisse, Touri-Shops und Billigläden dürfen nicht dominieren. Zukunftsorientierter sind etwa Betriebe, die IT- mit Handwerk verbinden, selbst Bäckereien können das.
Und was bedeutet das baulich?
Die Altstadt braucht kein Hochhaus. Aber viele kleine Transformationen sind denkbar. Man kann das Erdgeschoss nach unten oder in den Hof hin vergrößern. Und vieles geht auch ohne bauliche Eingriffe – mit Flächenumwidmungen und Nutzungsänderungen. Zudem ist die Altstadt zum aktuellen Vorbild geworden – Mischnutzung, kurze Wege, wenig Autos. Wo sonst gibt es in Heidelberg ein urbanes Ambiente?
Sie wollen die Touri-Shops zurückdrängen – und mit Ihnen auch die Touristen?
Massen- und Billigtourismus ist stadtzerstörend. Corona hat die Altstadt ja für viele zum Paradies gemacht. Heidelberg muss sich fragen: Brauchen wir diesen relativ neuen Tourismus? Er ist ja auch stadtökonomisch schädlich, wenn jemand bloß einen Kaffee trinkt und dafür die ganze Infrastruktur gratis nutzt. Solche Überfälle auf die Altstadt können verhindert werden, indem sie eingeschränkt oder verteuert werden – wie in Dubrovnik oder Venedig. Die Chancen für einen sanften Bildungstourismus wären ja riesig in Heidelberg – und stadtökonomisch viel lukrativer.
Das Leuchtturm-Projekt der IBA ist Patrick-Henry-Village (PHV). Ihre Prognose: Wird das ein Stadtteil, der den neuen Lebensrealitäten gerecht wird?
Wenn wir es schaffen, aus den geplanten Szenarien ein umsetzbares Programm zu entwickeln, bin ich zuversichtlich. Es wäre attraktiv, wenn neue Wohnformen in eine neue Stadtform übergehen. Ähnliches ist im Bestand – mit kleinen Eingriffen – auch in der Altstadt möglich. Da arbeiten und treffen sich ja jetzt schon viele im Park oder in der Kneipe statt im Büro.
Kann man die hochfliegenden Pläne für PHV überhaupt umsetzen, ohne dass der Wohnraum an Ende viel zu teuer wird?
Das hat fundamental mit den Bodenpreisen zu tun. Der Bund, der das Gelände besitzt, ist aufgefordert, die Bodenfrage als extrem relevanten Bestandteil der Stadtplanung einfließen zu lassen. Indem man zum Beispiel festlegt, dass der Boden höchstens ein Fünftel der Mietkosten ausmacht.
"Wissen schafft Stadt" heißt das Motto dieser IBA. Was trägt sie zum Wohnungsthema bei?
Das Besondere an dieser IBA ist: Sie will keinen Eiffelturm bauen, ist nicht auf Architektursensationen aus, sondern auf den Alltag als gewöhnliche Sensation. Sie will wissen, was Stadtbürger wollen, um dann innovative Verfahren zu entwickeln, wie man heute überhaupt Wohn- und Bildungsbauten oder ganze Stadtteile planen kann, in denen Menschen gerne leben.
Hätte diese IBA nicht eigentlich "Wohnen für alle" als Thema haben sollen?
Aus heutiger Perspektive ist es ein unausweichliches Thema. "Wissen schafft Stadt" ist abstrakt, aber es passt: Denn "Wohnen für alle" heißt auch soziale Heterogenität. Daraus erwächst informelle Bildung, die man nicht an Schulen lernen kann. Wo trifft man einen Fremden, der etwas weiß, was man nicht wusste? In der Stadt. Wenn die Stadt aber zu teuer und homogen ist, können die Reichen und Schönen nur noch sich selbst treffen, was auch für sie weder geistig anreichernd noch weiterbildend ist – und zu einem urbanen Stahlbad werden kann.
Als Kuratoriumsmitglied kennen Sie die Heidelberger inzwischen gut. Was finden Sie besonders charakteristisch?
Die Heidelberger, scheint mir, wissen nicht wirklich, was für nicht-materiellen und materiellen Reichtum sie haben, und welche Gefahren lauern, dass er verschwinden kann. Gibt es so etwas wie eine Heidelberger Seele, scheint sie mir etwas satt und selbstgefällig. Ich wünsche mir, dass sie – auch in der IBA – mehr die Chance sieht, ihre Stadt weiterzuentwickeln. Denn es gibt auch für Heidelberger kein Entrinnen: Wenn sie wollen, dass ihre Stadt so bleibt, wie sie ist – dann muss sich alles verändern.