Karlstorbahnhof Heidelberg

Geschäftsführerin Ingrid Wolschin geht nach 20 Jahren in den Ruhestand

"Das Haus ist für mich ein Stück Heimat" - Sie rettete das Kulturhaus 1999 vor der Pleite - Jetzt macht die 65-Jährige erstmal eine PauseVon Anica Edinger

21.02.2020 UPDATE: 23.02.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 13 Sekunden
Seit 1999 hat Ingrid Wolschin den Karlstorbahnhof am Rande der Altstadt geleitet, der bei ihrem Amtsantritt auch am Rande des Abgrundes stand. Nach etwas über 20 Jahren verlässt die Geschäftsführerin ein gesundes Kulturhaus, das bald in die Südstadt zieht. Foto: Rothe

Heidelberg. Noch ein letztes Mal wickelte sie die Wirtschaftsprüfung ab. Ein letztes Mal war sie bei der Mitgliederversammlung. Ein letztes Mal posierte sie für den RNZ-Fotografen. Ein letztes Mal fuhr sie mit dem Rad die Neuenheimer Landstraße entlang bis zu ihrem Arbeitsplatz – dem Karlstorbahnhof. Es gab in der vergangenen Woche viele letzte Male für Ingrid Wolschin, die Ex-Geschäftsführerin des Kulturhauses Karlstorbahnhofs.

Nach 20 Jahren verabschiedet sich die 65-Jährige in den Ruhestand. Zwar gibt es zu diesem Anlass am 1. März noch einmal eine offizielle Feier mit Kulturbürgermeister Joachim Gerner und Wissenschaftsministerin Theresia Bauer. Doch Wolschins wirklich letzter Arbeitstag war bereits an diesem Freitag. Jetzt geht es eine Woche zum Skilanglauf ins Altvatergebirge in Tschechien. Zuvor traf sich Ingrid Wolschin noch einmal zum RNZ-Gespräch – ein letztes Mal.

Frau Wolschin, als sie den Karlstorbahnhof 1999 übernommen haben, stand das Haus kurz vor der Insolvenz. Heute sind alle Schulden längst bezahlt, den Karlstorbahnhof erwartet mit dem Umzug in die Südstadt eine strahlende Zukunft – und das ist auch Ihr Verdienst. Sind sie stolz?

Ja. Es ist toll, dass es den Laden nach vielen unruhigen Jahren überhaupt noch gibt – und dass er hervorragend funktioniert. Das ist aber nicht nur meine Leistung, sondern auch die meines Teams. Deshalb bin ich auch so entspannt.

Entspannt inwiefern?

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Weil wir jetzt in ein neues Haus ziehen können, weil dieser Kampf durchgefochten ist, und weil der Karlstorbahnhof mit dem Umzug wirklich eine Perspektive hat.

Hintergrund

> Ingrid Wolschin (65) wuchs in Bremerhaven auf. Mit Zahlen ist sie groß geworden: Ihr Vater betrieb einen Textilgroßhandel. Nachdem sie in Bremerhaven die Höhere Handelsschule besuchte, studierte sie Sozialwissenschaften in Bremen. Nach dem Studium zog es sie in den

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> Ingrid Wolschin (65) wuchs in Bremerhaven auf. Mit Zahlen ist sie groß geworden: Ihr Vater betrieb einen Textilgroßhandel. Nachdem sie in Bremerhaven die Höhere Handelsschule besuchte, studierte sie Sozialwissenschaften in Bremen. Nach dem Studium zog es sie in den Odenwald, wo Wolschin ein Tagungshaus in Neckargerach aus der Insolvenz führte. Danach machte sie eine Umschulung zur Umweltinformatikerin und übernahm in Saarbrücken ein Projekt, das benachteiligte und langzeitarbeitslose Frauen wieder in das Berufsleben eingliedern sollte.

In Heidelberg fand sie im Jahr 1995 ihre neue Heimat, "wegen der Nähe zum Odenwald, weil man hier in fünf Minuten im Wald und im Grünen ist", sagt Wolschin. Die 65-Jährige ist leidenschaftliche Reiterin, besaß bis vor zehn Jahren selbst zwei Pferde. Heute hat sie eine Reitbeteiligung bei einer Freundin. Außerdem liebt Ingrid Wolschin die Berge ("Lieber als das Wasser"), fährt Fahrrad und Mountainbike, geht wandern und laufen. Täglich fuhr sie von Handschuhsheim mit dem Rad zur Arbeit – auch im Winter. (ani)

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Jetzt, da Sie nicht mehr Geschäftsführerin sind: Ist es wirklich die richtige Entscheidung für das Kulturhaus, die Altstadt zu verlassen?

Ja.

Das kam schnell...

Weil ich komplett hinter der Entscheidung stehe. Wir waren anfangs auch skeptisch, aber dann haben wir recherchiert. Fußläufig – also in einer Distanz von 1,2 Kilometern – erreichen uns hier am Standort 10.000 Menschen. In der Südstadt sind es 50.000 – die neuen Wohngebiete auf den Konversionsflächen noch nicht mit eingerechnet. Außerdem hat sich Heidelberg auch komplett verändert.

Sie meinen geografisch?

Ja. Die Altstadt ist kein Zentrum mehr, das hat sich nach Bergheim verlagert. Wir sind hier zudem am Rande der Altstadt, denn die hört für Besucher am Kornmarkt auf. In der Südstadt sind wir eingebunden in einen lebendigen Stadtteil. Das ist uns hier nie wirklich gelungen.

Es gibt aber viele in der Stadt, die der gescheiterten Tieferlegung des Karlstorbahnhofs am Standort hinterhertrauern.

Das mag sein. Aber die Tieferlegung hätte auch nicht unsere Probleme gelöst. Denn die Platzzahl im Saal hätte sich nicht merklich erhöht – da hätten wir nach einigen Jahren wieder bei der Verwaltung anklopfen müssen. Und Parkplätze, Garderobe und die ganze interne Infrastruktur hätten immer noch nicht gestimmt.

Sie sprechen noch immer von "wir" und "uns". Wird Ihnen der Abschied schwerfallen.

Nein.

Nicht mal ein kleines bisschen?

Es ist doch toll, in Zukunft morgens aufzuwachen und jeden Tag neu zu entscheiden, was ich tun werde. Zeit und Freiräume: Darauf freue ich mich sehr.

Haben Sie die 20 Jahre im Kulturbetrieb ausgezehrt?

Definitiv. Das lag aber weniger an der Kultur an sich, sondern an dem Umfeld: am Schuldenabbau in den ersten Jahren, an den Auseinandersetzungen mit Politik und Verwaltung, an den vielen Sitzungen. Vor allem in den ersten Jahren habe ich hier rund um die Uhr gearbeitet, teilweise schlief ich nur drei oder vier Stunden und ging dann wieder ins Haus. Es war die GmbH, die so hoch verschuldet war. Es hat bestimmt fünf Jahre gedauert, bis ich sie abgewickelt hatte.

Ein Jahr nach ihrem Antritt posiert Ingrid Wolschin (3.v.l.) vor dem Karlstorbahnhof mit ihrem Team und Mitgliedern verschiedener Vereine. Darunter ist auch Rainer Kern (4.v.r.), heute künstlerischer Leiter bei „Enjoy Jazz“. Foto: pr

In einem hoch verschuldeten Kulturhaus als Geschäftsführerin einsteigen: Das war ein Kampf mit Ansage. Wieso haben Sie sich das angetan?

Ich habe lange überlegt, ob ich die Stelle annehme. Diese Aufgabe hatte eine Größenordnung, die ich beruflich vorher noch nicht bewältigt hatte. Aber ich habe es einfach nicht verstanden: Wie kann so ein Haus in einer Studentenstadt nicht funktionieren? Außerdem hätte ich damals selbst nicht gewusst, wohin ich auf Konzerte gehen soll, wenn es den Karlstorbahnhof nicht mehr gibt – außer natürlich ins "Schwimmbad".

Haben Sie die Entscheidung je bereut?

Nein, bereut nicht. Aber natürlich gab es in 20 Jahren zwischendurch die Überlegung, noch einmal etwas anderes zu machen.

Aber...?

Ich wäre gerne noch einmal in die Bildungsarbeit gegangen, wo ich beruflich ursprünglich herkomme. Aber die ausgeschriebenen Stellen in diesem Bereich haben für mich nie wirklich gepasst.

20 Jahre Kulturbetrieb in Heidelberg: Was hat sich geändert?

Im Laufe der Jahre wurde Kultur wesentlich lebendiger. Die großen Clubs wurden zwar weniger, dafür ist die Kultur dezentraler, vielfältiger geworden. Auch für uns als Veranstalter ist das Geschäft teurer geworden. Früher gingen Bands und Musiker aus Marketing-Gründen für ihre CDs auf Tournee, heute verdienen sie mit Konzerten ihr Geld – und verlangen entsprechend hohe Gagen. Auch die gesamte Infrastruktur und die Nebenkosten sind wesentlich teurer geworden.

Gibt es eine Art Heidelberger Spezifikum im Kulturbetrieb?

Die Hochkultur wird hier stärker anerkannt als die freie Kultur. Das wird an den Zuschüssen ersichtlich und auch an der Unterstützung von Sponsoren. Das wird sicherlich auch für den Karlstorbahnhof immer gleich bleiben: Der Kampf um die Fördermittel.

Wie hart mussten Sie da kämpfen?

Hart. Es gab gute und schlechte Zeiten, Fürsprecher und Gegner. Ich kann mich noch gut erinnern, als Baubürgermeister Raban von der Malsburg nach der feuerpolizeilichen Überprüfung im Jahr 2003 oder 2004 zu mir sagte: "Ich muss das Haus schließen, weil es nicht sicher ist." Das war für uns natürlich nicht möglich, da wir für das gesamte Jahr bereits Künstlerverträge geschlossen hatten. Er erklärte sich dann bereit, im laufenden Betrieb nachzubessern. Das war ein langwieriger Prozess, der sich verzögert hat. Als dann 2010 der Unfall bei der Duisburger Loveparade passierte, wurde noch genauer hingeschaut und wir brauchten eine Neuabnahme nach der inzwischen neuen Europäischen Versammlungsstättenverordnung.

Und Sie haben gut 80 Plätze im Saal eingebüßt...

Genau. Das bedeutete einen Ausfall von gut 50.000 Euro im Jahr für uns. Die Stadt Heidelberg hatte mir damals zugesichert, dass sie mir das Defizit ausgleichen wird. Aber die kannten mich natürlich gut genug, um zu wissen, dass ich alles daran setzen werde, dass das Budget ausreicht.

Haben Sie das geschafft?

Ich musste bisher nur zwei Mal wegen eines Defizitausgleiches im Rathaus anklopfen. Aber inzwischen schreiben wir wieder die "schwarze Null".

Was bedeutet das Haus für Sie nach 20 Jahren als Geschäftsführerin?

Es ist ein Stück Heimat für mich geworden.

Man wird Sie also immer mal wieder im Karlstorbahnhof sehen...

Vielleicht werde ich noch einmal kurz im Büro sein, um letzte Übergaben zu machen. Mein Leben ist ja hier im Karlstorbahnhof. Aber dann brauche ich erst einmal eine Pause, die Füße hochlegen oder auch durch die Welt reisen.

Wohin soll es gehen?

Ich habe keinen Plan. Und das ist das Schöne daran.

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