Heidelberg

Was Paul Kirchhof von Sterbehilfe hält

Gesetzentwürfe zur Regelung des assistierten Suizids sind kürzlich gescheitert. Die Lösung kommt wohl aus der Praxis.

10.10.2023 UPDATE: 10.10.2023 06:00 Uhr 3 Minuten, 48 Sekunden
Paul Kirchhof, emeritierter Professor für Staatsrecht an der Universität Heidelberg, in seinem Büro in der Schillerstraße in der Weststadt. Er beschäftigte sich zuletzt unter anderem mit Staatsverschuldung, der Klimakrise – und auch mit Sterbehilfe. Foto: jul
Interview
Interview
Paul Kirchhof
Heidelberger Rechtswissenschaftler und ehemaliger Bundesverfassungsrichter

Von Julia Lauer

Heidelberg. Mit der Sterbehilfe sind in Deutschland einige rechtliche Unsicherheiten verbunden. Darauf macht der Heidelberger Rechtswissenschaftler und ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof im RNZ-Gespräch aufmerksam. Der Jurist ist jedoch skeptisch, dass die Lösung hierfür aus der Politik kommen wird.

Herr Professor Kirchhof, vor zwei Jahren haben Sie gefordert: "Die Selbstbeendigung des Lebens darf nicht Normalität werden." Warum befürchten Sie das?

Die Menschen wollen leben und Lebensfreude verbreiten. Doch die gegenwärtige öffentliche Debatte um die Sterbehilfe erweckt gelegentlich den Anschein, das Recht auf einen selbstbestimmten Tod berechtige zu alltäglicher Beliebigkeit. Doch das Bundesverfassungsgericht betont ausdrücklich, dass die Selbsttötung nicht zur Normalität werden darf. Wenn beispielsweise ein ungeduldiger Erbe ältere und kranke Menschen zur Selbsttötung drängen würde, hat der Staat das Leben zu schützen.

Der Verein Sterbehilfe, der in der Schweiz und in Deutschland aktiv ist, hat im vergangenen Jahr 139 Suizide begleitet. Das ist doch vergleichsweise wenig: Geschätzt 100.000 Menschen jährlich versuchen hierzulande, sich das Leben zu nehmen.

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Sterbehilfe ist eine Randerscheinung, und das soll sie auch bleiben. Jeder Suizidversuch ist auch ein Vorwurf an die Gesellschaft: Hättet Ihr diesem Menschen in Not nicht beistehen können, sodass dieses Leben wieder lebenswert ist?

Das Bundesverfassungsgericht hat vor drei Jahren anerkannt, dass es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt. Es ist also grundsätzlich erlaubt, einem lebensmüden Menschen ein tödliches Medikament zu überlassen. Unter welchen Umständen gilt das?

Der Mensch hat ein Recht, zu sterben, wenn dies sein freier Wille ist. Das folgte aus einem Urteil des Gerichts. Es gelten jedoch hohe Anforderungen an diesen Willen: Er darf nicht unter Zwang, Drohung oder Täuschung und nicht aufgrund einer psychischen Erkrankung zustande kommen. Der Wille muss nachhaltig sein, sonst rechtfertigt er die Suizidhilfe vor dem staatlichen Gesetz nicht. Es müssen außerdem Alternativen zum Sterben benannt und erschlossen werden.

Dürfen heute also alle Menschen, die einen als frei definierten Willen vorbringen, Hilfe bei der Beschaffung tödlicher Medikamente in Anspruch nehmen?

Bei schweren Schmerzen und Leiden, die durch Krankheit entstehen, darf die Palliativmedizin Medikamente geben, die Schmerzen lindern, auch wenn sie zum Tod führen. Die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen – Stichwort: Apparatemedizin – ist zulässig, wenn das dem Willen des Patienten entspricht und das Leben im natürlichen Krankheitsverlauf beendet wird.

Bei Menschen, die nicht schwer krank sind und keine Schmerzen haben, aber trotzdem nicht mehr leben wollen, ist eine Sterbehilfe zulässig, wenn der Suizidwillige seinen Willen frei gebildet hat und er auf Sterbehilfe angewiesen ist. Sterbewillige müssen jedoch jemanden finden, der ihnen hilft. Denn niemand ist verpflichtet, Sterbehilfe zu leisten – auch das sagt das Gericht.

Der Politik kommt die Aufgabe zu, den assistierten Suizid genauer zu regeln. Zwei fraktionsübergreifende Entwürfe fanden im Juli jedoch keine Mehrheit im Parlament. Wie sehen Sie das?

Beide Gesetzesvorhaben sind meiner Meinung nach zu Recht gescheitert. Der liberalere Entwurf wollte Sterbehilfe aus dem Strafrecht ausgliedern. Nach einer Beratung sollte das tödliche Medikament zu erwerben sein. Doch Aufgabe des Staates ist, Suizid zu vermeiden.

Der restriktivere Entwurf wollte gewerbliche Sterbehilfe erneut unter Strafe stellen, aber nach zwei psychiatrischen Gutachten und einer Beratung Ausnahmen zulassen. Doch der bedacht und verantwortlich entschlossene Sterbewillige gehört nicht zum Psychiater. Deshalb ist es gut, dass sich keiner der Entwürfe durchsetzen konnte.

Es stehen also noch weitergehende Präzisierungen aus. Welche Unsicherheiten sind mit der geltenden Rechtslage verbunden?

Ein Problem ist die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, die das deutsche Strafrecht bisher vornimmt. Diese Unterscheidung ist überholt. Die Beihilfe zur Selbsttötung, die passive Sterbehilfe, ist nach geltendem Recht straffrei. Der Helfer stellt den Schierlingsbecher mit der tödlichen Substanz auf den Tisch, der Sterbewillige beherrscht das Geschehen und führt den Becher zum Mund. Wenn jedoch der Helfer den Schierlingsbecher zum Mund des Sterbewilligen führt, gilt das als Tötung auf Verlangen. Für diese aktive Sterbehilfe sieht das Recht schwere Strafen vor.

Wenn der Sterbehilfewillige Hilfe braucht, weil er selbst den Becher aufgrund einer Krankheit nicht halten kann, ist die Hilfeleistung rechtlich und ethisch kaum anders zu bewerten als die Beihilfe zur Selbsttötung. Auch in der Apparatemedizin ist die Unterscheidung hinfällig: Es macht faktisch keinen Unterschied, ob der Arzt aktiv einen Apparat ausschaltet oder einem Patienten passiv eine lebenserhaltende Maßnahme nicht zukommen lässt: In beiden Fällen stirbt der Mensch. Die Rechtsprechung bemüht sich um die Gleichbehandlung beider Fälle.

Das bedeutet, Sterbehelfer bewegen sich auf einem schmalen Grat?

Für Sterbehilfevereine, die sich vertraglich verpflichten, einen Menschen zum Tode zu führen, ist zu klären, inwieweit sie sich der Ernsthaftigkeit des Sterbewillens vergewissern und inwieweit auch sie für das Leben werben müssen. Diese Dinge zu regeln, ist eine Aufgabe für den Gesetzgeber. Daneben stellt sich eine ethische Frage. Menschen, die dauerhaft geistig krank sind, aber unter schweren Schmerzen leiden, können im Sinne des Rechts keinen freien Willen bilden, beanspruchen aber den besonderen Schutz der Rechtsgemeinschaft.

Wie schätzen Sie die Chance ein, dass es in diesem Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz doch noch zu einer Lösung kommt?

Meine Vermutung ist, dass es in naher Zukunft kein Gesetz geben wird. Ich gehe davon aus, dass die Lösung aus der Praxis kommen wird. Vor allem die Ärzte und Pfleger werden die nötige Sensibilität für die Einschätzung haben, was einem Menschen an Humanität gebührt. Pfleger haben als Beruf gewählt, auch Sterbende zu begleiten. Ärzte, vor allem die Palliativmediziner, verfügen über die tägliche Erfahrung der medizinischen Indikation und humanitären Begleitung.

Haben Sie selbst auch schon einmal darüber nachgedacht, unter welchen Umständen ein assistierter Suizid für Sie infrage käme?

Meine Frau und ich haben rechtlich Vorsorge getroffen, dass bei schweren Schmerzen und Leiden oder einem Behandlungsabbruch der eine für den anderen, wenn dieser nicht mehr entscheidungsfähig ist, in dessen mutmaßlichem Willen entscheiden kann. Das ist auch ein Vertrauensakt.

Info: Paul Kirchhof hält am Donnerstag, 12. Oktober, um 19 Uhr einen Vortrag mit dem Titel "Recht auf Leben, auch auf Sterben?" im Haus der Begegnung, Merianstraße 1. Veranstalter ist der Förderverein Hospiz Louise Heidelberg, der alle Interessierten zur Teilnahme einlädt. Der Eintritt ist frei.

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