Junge Afghanin kämpft nach tödlichem Radunglück um ihre Familie
Die 26-Jährige verlor ihren Mann bei einem Fahrradunfall. Jetzt will die dreifache Mutter ihre Angehörigen nach Heidelberg holen.

Auf diesem Feldweg zwischen dem Boxberg und Rohrbach verunglückte der Mann 2019. Archivfoto: Priebe
Von Julia Schulte
Heidelberg. Tamina Rahmani (Name geändert) ist eine ziemlich taffe Frau, der man die vielen Schicksalsschläge nicht anmerkt. Zum Gespräch auf dem Boxberg, wo die 26-Jährige mit ihren drei kleinen Söhnen und ihrem jüngeren Bruder lebt, bringt sie eine Picknickdecke, Tee und Pistazien mit. Zur Unterstützung ist Mia Lindemann vom Asylarbeitskreis Heidelberg dabei. Sie steht Rahmani seit 2019 zur Seite und hilft bei bürokratischen Angelegenheiten, aber auch mit einem offenen Ohr für die Sorgen der jungen Frau.
Rahmani und Lindemann fanden durch einen tragischen Unfall zueinander. Rahmanis Mann arbeitete in Afghanistan als Ortskraft für die Bundeswehr, in Kundus. Weil dort schon 2014 die Bedrohung durch die Taliban zu groß wurde, holte die Bundesregierung ihn und seine Frau nach Deutschland. Das junge Paar musste aufgrund der besonderen politischen Situation kein Asylverfahren durchlaufen, sondern wurde sofort anerkannt. So auch der älteste Bruder von Rahmani, der ebenfalls als Dolmetscher für die Bundeswehr tätig war und heute mit seiner Frau in Karlsruhe lebt.
Rahmanis Mann lernte Deutsch, schloss eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann ab, das Paar bekam drei Kinder. Als das jüngste gerade zwei Monate alt war, verunglückte Rahmanis Mann tödlich. Auf einem abschüssigen Weg zwischen Boxberg und Rohrbach stürzte er mit seinem Fahrrad eine Böschung herunter, einen Tag vor seinem ersten Arbeitstag. Ein "Kümmerer" der IHK brachte daraufhin Rahmani und Lindemann zusammen. Denn Rahmani stand nicht nur mit drei kleinen Kindern plötzlich alleine da, sondern sorgte sich auch um ihre Eltern und die fünf noch in Kundus lebenden Geschwister.
Diese erhielten von den Taliban regelmäßig Drohungen. Es hieß, man wüsste, dass ihr Sohn und Schwiegersohn mit den Deutschen zusammengearbeitet hätten und wie viele Kinder die Familie noch habe. "In Kundus bringt es nichts, zur Polizei zu gehen", berichtet Rahmani. Stattdessen wechselten ihre Eltern öfters die Sim-Karte des Handys. Doch als ihr jüngerer Bruder von der Schule kam und maskierte Männer in einem Auto lauerten, wurde es der Familie zu viel. Da in Deutschland lebende Ortskräfte nur ihre Kernfamilie – also Partner und minderjährige Kinder – mitbringen dürfen, unternahm die Familie 2019 einen Fluchtversuch, doch sie schaffte es nur bis zur iranisch-türkischen Grenze.
Auch interessant
Der einzige, dem die Flucht gelang, war Rahmanis jüngerer, damals noch minderjähriger Bruder. Über die Türkei und das Mittelmeer gelangte er in das berüchtigte Flüchtlingscamp Moria in Griechenland, erlebte dort den großen Brand mit, und wurde schließlich im Sommer 2021 von der Bundesregierung nach Deutschland geholt. Er kann Rahmani jetzt unterstützen und ist gerade dabei, Deutsch zu lernen. "Er war auf der Flucht ja noch so jung, ich bin wirklich froh, dass er jetzt hier ist", sagt Rahmani. Und durch ihn ist es jetzt vielleicht auch möglich, die restliche Familie nachzuholen. Denn Rahmanis Bruder ist als Flüchtling anerkannt – und kann damit den Familiennachzug beantragen.
In Kundus lebt Rahmanis Familie allerdings nichts mehr: Nachdem die Taliban in Afghanistan vor einem Jahr wieder die Macht übernahmen, wurde es zu gefährlich. Rahmanis Eltern und den vier Geschwistern gelang es, ein Visum für den Iran zu ergattern, mit Schleppern schafften sie es bis in die Türkei. Dort landeten sie in der Kleinstadt Nigde, schlugen sich mit Leiharbeit durch. Als Rahmanis Bruder mit Lindemanns Hilfe den Familiennachzug beantragte, musste die sechsköpfige Familie mit Dolmetscherin in das 750 Kilometer entfernte Istanbul reisen, um bei der Botschaft die nötigen Unterlagen einzureichen. Doch da offizielle Dokumente in Afghanistan häufig fehlerhaft oder gar nicht vorhanden sind, bekam nur der Vater eine Einreiseerlaubnis für Deutschland, denn nur seine Abstammung wurde anerkannt. Der 70-Jährige lebt aktuell noch im Ankunftszentrum in PHV.
Um die weiteren Familienangehörigen nachzuholen, mussten diese einen DNA-Test ablegen, dafür reisten sie erneut mit Dolmetscherin nach Istanbul. Rahmanis Vater und Bruder machten in Heidelberg ebenfalls einen DNA-Test. Die Familie hofft, dass über die Härtefallregelung alle vier Geschwister von Rahmani nach Deutschland kommen dürfen – denn sonst dürften nur die zwei noch minderjährigen Kinder mit. "Meine Schwester ist Hebamme und könnte hier arbeiten, mein Bruder hatte kurz vor der Flucht die Schule beendet und würde gerne eine Ausbildung beginnen", erzählt Rahmani. Sollte es mit der Härtefallregelung nicht klappen, müssten die beiden über ein Arbeitsvisum zwecks Ausbildung nach Deutschland kommen. Dafür allerdings müssen sie Sprachkenntnisse nachweisen und Deutschkurse sind in der Türkei rar. "Wir üben schon fleißig über Whatsapp", erzählt Lindemann.
All die Kosten für Anträge, Fahrten, Übersetzungen und Visa sind hoch. Über die RNZ und Dekan Christof Ellsiepen erfuhr Lindemann, dass sie Geld aus dem Nothilfefonds "Flucht und Migration" der beiden großen Kirchen in Heidelberg beantragen kann. 2600 Euro erhielt Rahmanis Familie – braucht aber wahrscheinlich noch mehr. Denn in Deutschland muss die Familie viele Anwaltskosten begleichen: für die Asylverfahren und die sehr viel teureren Visumverfahren. Auch die Überweisungen in die Türkei sind aufgrund der hohen Bankgebühren kostspielig. Die Familie ist daher nach wie vor auf Spenden angewiesen.
Rahmani selbst möchte ihr Deutsch noch verbessern und würde am liebsten nächstes Jahr eine Ausbildung beginnen – mit drei kleinen Kindern ist das nicht leicht. Aber es wäre nicht die erste Hürde, die die junge Frau überwindet.




