Hier studieren, während zu Hause in der Ukraine Bomben fallen
Hunderte ukrainische Studierende und Wissenschaftler lernen und forschen in Heidelberg. Sie alle wollen bald beim Wiederaufbau ihres Landes helfen.

Von Denis Schnur
Heidelberg. Bohdan Mostovyi musste lange bangen. Vor zwei Jahren hat sich der heute 25-Jährige für ein Stipendium von "Brot für die Welt" und einen Auslandsaufenthalt in Heidelberg beworben, hier will er seine Doktorarbeit schreiben. Im April sollte es losgehen. Anfang des Jahres schreibt er sich ein, die Vorfreude ist groß.
Doch dann kommt der Krieg. Schnell nimmt die russische Armee große Teile der Ukraine ein – auch die Kleinstadt, in der der Theologie-Doktorand mit seinen Eltern lebt. Die folgenden Wochen verbringen die drei im Keller, verstecken sich vor den Besatzern. Um Plünderer abzuschrecken, verschanzt sich der Student sogar in der Zweitwohnung. Zu dieser Zeit scheint der Aufenthalt in Heidelberg weit weg.
Die Erlösung kommt sieben Tage vor der geplanten Abreise in Form von Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen. "Die ukrainische Armee hat die Stadt gerade rechtzeitig befreit." Seine Eltern können ohne Angst den Keller verlassen, Mostovyi sich auf den Weg nach Heidelberg machen. "Ich hatte überlegt, zur Armee zu gehen. Aber ich glaube, dass ich hier nützlicher bin, nach meiner Zeit hier der Ukraine noch besser helfen kann."
Mostovyi ist einer von gut 150 Ukrainerinnen und Ukrainern, die dieses Semester an den Heidelberger Hochschulen studieren (siehe Artikel hier). Zum Teil wollten sie – wie Mostovyi – ohnehin kommen und habe es trotz Krieg geschafft. Die meisten sind jedoch wegen des Krieges hier. So wie Solomyia Serkiz. Die 20-Jährige studiert Physik in Lwiw. Im März verlässt sie die Ukraine in Richtung Westen, in Richtung Sicherheit. Als klar wird, dass der Krieg länger dauert, will sie die Zeit nutzen. "Ich musste etwas tun. Das ist meine Verantwortung, wenn ich in Sicherheit bin", findet sie. Sie schreibt mehrere Unis an, erhält nur aus Heidelberg eine Antwort. Das Heidelberg Institute for Theoretical Studies (HITS) bietet der 20-Jährigen einen Job an, hilft bei der Einschreibung an der Uni. Kurz darauf verhilft ihr das Institut sogar zu einem Stipendium.
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Für Iryna Bobyk hat der Krieg dagegen nur den Zeitplan verändert. Sie wollte schon lange in ein deutschsprachiges Land. Sprache und Kultur faszinierten sie, sagt die 19-Jährige. "Dass ich Erasmus mache, war klar.
Wegen des Krieges habe ich es früher gemacht", so die angehende Wirtschaftsjuristin. Seit April studiert sie an der SRH-Hochschule. Neben ihr sitzt Kommilitonin Sofiia Koshova. Auch die 18-Jährige hatte ohnehin einen Auslandsaufenthalt geplant. "Erasmus war schon lange mein Traum. Der Krieg hat da keine Rolle gespielt." Entsprechend blieb die Studentin auch bis August in ihrer Heimat, arbeitete in den ersten Wochen nach dem Kriegsbeginn als freiwillige Helferin.
Neben den Studierenden kamen auch viele Forscherinnen und Forscher nach Heidelberg. Um dem Krieg zu entfliehen, aber auch um weiter arbeiten zu können. So wie die Sprachwissenschaftlerinnen Dr. Maryana Natsiuk und Dr. Viktoriya Osidak, die seit März an der Pädagogischen Hochschule (PH) arbeiten. Sie kennen die Bildungsuni aus gemeinsamen Projekten – und profitieren im Frühjahr von ihrem außergewöhnlichen Engagement.

Denn am Tag des Kriegsausbruchs entscheidet die Hochschule, dass man mehr will, als Solidarität zu bekunden: "Als am 24. Februar die Nachricht vom Angriff der russischen Truppen eintraf, war ich nicht nur schockiert, sondern konkret in Sorge um die Kolleginnen und Kollegen dort", berichtet Hans-Werner Huneke, damals PH-Rektor. Einen Tag später stellt das Rektorat ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt in Heidelberg auf die Beine, auf das sich auch Natsiuk und Osidak bewerben. Dank der Hilfe zweier Stiftungen können sie sowie eine Musikwissenschaftlerin nach Heidelberg. "Das war ein Segen", betont Prof. Karin Vogt, die mit den Sprachpädagoginnen zusammenarbeitet und sich über deren Expertise freut.

Auch Natsiuk und Osidak sind froh über diese Chance. "Die Situation ist hart, aber die Möglichkeit wunderbar", sagt Natsiuk an einem Dienstagnachmittag im Senatssaal der PH. Natürlich, weil sie und ihre minderjährigen Kinder, die sie mitgebracht haben, hier in Sicherheit seien. Aber vor allem, weil sie sich weiterentwickeln, "als bessere Wissenschaftlerinnen zurückkehren" können, wie Osidak erklärt.
Die Studierenden und Forscherinnen haben ihrem Land den Rücken gekehrt. Doch alle Ukrainerinnen und Ukrainer, mit denen die RNZ für diesen Artikel spricht, wollen zurück. Sie hoffen auf ein baldiges Kriegsende – um dann helfen zu können, die Ukraine besser zu machen. "Wenn wir Teil der EU werden wollen, muss sich auch das Bildungssystem ändern. Und dabei können wir helfen. Wir wissen, was hier anders ist, was besser werden muss", betont Pädagogin Natsiuk.
Doch sie alle haben Angehörige in der Heimat, fürchten um deren Leben, warten oft Stunden auf Nachricht, weil nach Angriffen Strom oder Internet ausfallen. "Ich bekomme jedes Mal Panikattacken, wenn ich Nachrichten sehe", gesteht Natsiuk. Neben ihrem Mann hat sie auch ihre erwachsene Tochter zurückgelassen. "Sie sagt mir immer, dass ich mir keine Sorgen machen soll, aber das sagt sich so leicht." Ähnlich geht es Studentin Bobyk, die ihren Erasmus-Aufenthalt nicht so genießen kann wie viele andere: "Ich denke pausenlos an meine Familie und meine Freunde."
"Manchmal ist es schwierig, in ein Buch zu schauen, weil man mit den Gedanken woanders ist", sagt auch Theologe Mostovyi. Zwei seiner Cousins kämpften in der Armee, es sei schwierig, die Angst auszublenden. "Das Gehirn versucht, vor der Realität zu fliehen." Natürlich leide man mit, quäle sich beim Anblick der Nachrichten. Doch irgendwann nehme das Gefühl ab: "Du kannst nicht neun Monate leiden." Was erstmal wenig empathisch klingt, sei der einzige Weg, mit dieser katastrophalen Lage umzugehen: "Wir dürfen nicht zerbrechen. Wir müssen bereit sein, das Land wieder aufzubauen." Die Studierenden im Ausland müssten weiter lernen, die Armee weiter kämpfen, die Menschen weiter machen. "Als zu Beginn des Krieges Bomben neben unserem Haus explodiert sind, hatten wir erst Angst", so der Doktorand, "dann haben wir weiter gekocht. Wir konnten ja nicht verhungern."
Aber – da sind sich ebenfalls alle Gesprächspartner einig – auch Europa müsse der Ukraine weiter helfen. Sie alle sind unglaublich dankbar für die herzliche Aufnahme in Deutschland und all die Hilfe. Aber die dürfe nicht enden: "Wir sind nur so stark, weil wir wissen, dass wir unterstützt werden", sagt Osidak. Und Mostovyi appelliert an die Deutschen: "Bitte vergesst nicht, was in der Ukraine passiert. Dort leiden Millionen, sterben Menschen, werden Kinder zu Waisen, Familien obdachlos." Er verstehe, dass sich Menschen wegen der Gaspreise sorgten. "Aber der höchste Preis, der bezahlt werden kann, ist Blut."