Von Christoph Driessen
Die Croissants sind wirklich unfassbar gut. So wie alles andere aus der Boulangerie. Die Erklärung kann nur sein, dass Lüttich eben die nördlichste Stadt der französischen Welt ist. Die belgische Stadt liegt direkt hinter der deutschen Grenze und doch taucht der Besucher in eine andere Welt ein. Deutsch spricht hier niemand mehr. Die Häuser sehen eher aus wie in Frankreich. Die schönsten sind Zeugnisse der belgischen Art nouveau, gehüllt in verschlungene Jugendstilranken.
Etwas faszinierend Fremdartiges geht von dieser Stadt aus. Wie aus einer fernen Erinnerung wirken die eigenartigen Appartement-Hochhäuser, die sich entlang der Maas und am Quai Orban am Kanal Dérivation erheben. Ihre monochromen Fassaden kontrastieren mit den Giebeln und Erkern des verkeilten Gassenlabyrinths der Altstadt.
Der surreale Charakter der Stadt setzt sich in ihren Attraktionen fort. Das einstige Wahrzeichen von Lüttich ist nicht mehr da. Es war der gotische Dom. Nach der Französischen Revolution wurde der französischsprachige Teil Belgiens zu einer Hochburg des Liberalismus, und in dieser Phase des Umbruchs empfanden Lütticher Bürger die Kathedrale als Zwingburg des Glaubens und rissen sie ab. An ihrer Stelle klafft nun im Zentrum eine riesige Lücke. Eiserne Säulen markieren den früheren Standort des Doms.
Doch auch der frühere, mit eisernen Säulen markierte Standort des Doms und... Foto: dpaEine Seite der überdimensionierten Freifläche wird vollständig von der Vorderfront eines Palastes in Anspruch genommen. Es ist die einstige Residenz der Lütticher Fürstbischöfe. Diese herrschten mehr als 1000 Jahre über die Stadt und ihr Umland. Eine weitere Lütticher Merkwürdigkeit besteht darin, dass dieses erstklassige Baudenkmal heute vollständig als Gerichtsgebäude genutzt wird und nur mit einer Führung zugänglich ist.
Die wichtigste Attraktion für Touristen ist eine Treppe: die Montagne de Bueren, "eine der außergewöhnlichsten Treppen der Welt", wie es in der Lütticher Eigenwerbung heißt. Kein schöner geschwungener Aufgang wie die Spanische Treppe in Rom, keine Himmelsleiter. Nein, es sind schwarze, schmucklose Stufen, die so weit und steil nach oben führen, dass man das Ende nicht sehen kann. Eine Treppe ins Nichts?
Die Montagne de Bueren hat irgendwann ein Ende, das sei jedem versichert, der versucht ist, auf halber Strecke aufzugeben. Aber zu einer schönen Kirche oder zu einem Schloss führt sie nicht. Was den Besucher oben erwartet, ist ein grandioser Blick ins Maastal. Vor 50, 60 Jahren sah man von diesem Standort aus noch rot flackernde Hochöfen. Das Lütticher Becken war die erste industrialisierte Region auf dem europäischen Kontinent.
Im Lütticher Vorort Seraing errichtete der gebürtige Engländer John Cockerill (1790-1840) noch zu Lebzeiten Goethes die erste integrierte Fabrik mit Hochöfen, Eisenhütten und Walzwerken. Im Mittelpunkt des Firmenimperiums lag der 1000 Jahre alte Sommersitz der Lütticher Fürstbischöfe, der nun von dem Industriemagnaten bewohnt wurde und deshalb heute Schloss Cockerill heißt. Der "Dampfzauberer" selbst hat sein Denkmal vor dem Rathaus von Seraing bekommen. Heute stehen die erloschenen Hochöfen des einstigen Stahlkonzerns Cockerill-Sambre wie ausgebrannte Kathedralen am Ufer der Maas in Ougrée, einem Ortsteil von Seraing.
Nach dem Niedergang von Kohle und Stahl war Lüttich Ende des vergangenen Jahrhunderts ziemlich heruntergekommen. Doch nun erlebt es schon lange wieder eine Renaissance. Die alten Brunnen im Zentrum sprudeln wieder. Viele historische Gebäude sind restauriert. Dazu kommen spektakuläre Neubauten wie der ICE-Bahnhof Liège-Guillemins, eine einzige raumgreifende Konstruktion des Architekten Santiago Calatrava.
Die Statue des aus Lüttich stammenden Schriftstellers Georges Simenon. Foto: dpaIn der Rue Léopold 26 steht das Geburtshaus des Schriftstellers Georges Simenon (1903-1989). Der Erfinder von Kommissar Maigret wuchs in dem Viertel Outremeuse auf, das zwischen der Maas und dem Kanal Dérivation liegt. Es ist das Viertel der kleinen Leute. Der Klang des Lütticher Dialekts in den Rufen der Straßenhändler, die Muscheln, Garnelen, Kirschen und Nüsse anpriesen, war eine von Simenons ersten Erinnerungen. Noch als alter Mann, der in der Schweiz ein Schloss bewohnte, erinnerte er sich an den Klang der kleinen Trompete, die der Gemüsehändler blies.
Outremeuse feiert jährlich im August mit einer Art anarchischem Sommerkarneval die Ausrufung der "Freien Republik Outremeuse" im Jahr 1927. Im Mittelpunkt des Treibens steht eine Figur, der man in der ganzen Stadt auf Schritt und Tritt begegnet: Tchantchès, eine schnapsnasige Gestalt, die im wallonischen Dialekt ihre Kalauer reißt, hat sogar sein eigenes Museum und seine eigene Kneipe.
Ein weiteres Museum ist das des wallonischen Lebens. Auch hier gibt es wieder einige Absonderlichkeiten, so das in Ehren aufbewahrte Holzbein von Jean-Joseph Carlier. Dieser Veteran der Napoleonischen Kriege stritt 1830 als Freiwilliger für die belgische Unabhängigkeit von den Niederlanden. Als während der Kämpfe seine Prothese zerbrach, machte er auf einem Besenstiel weiter. Bei seiner Rückkehr nach Lüttich versprach ihm die Stadt ein Ersatzbein aus Silber, doch daraus wurde dann doch nichts.
... der Platz an der St.-Pauls-Kathedrale sind sehenswert. Foto: dpaNach so vielen Skurrilitäten möchte man einfach nur ein wenig genießen. Dazu bieten sich zum einen der hübsche Platz vor der St.-Pauls-Kathedrale an und der Place du Marché, Lüttichs Prachtmeile voller Cafés und Restaurants unter Bäumen. Allerdings wäre Lüttich nicht Lüttich, wenn sich nicht auch hier eine Eigentümlichkeit finden würde. Die größte Sehenswürdigkeit der Stadt ist in den Augen vieler Wallonen eine Säule mit einem Reichsapfel auf der Spitze. Dieses als "perron" bezeichnete Denkmal war Symbol für die Lütticher Freiheit und Unabhängigkeit. Im 20. Jahrhundert entwickelte es sich zu einem Sinnbild der wallonischen Identität im durch den Sprachenstreit zerrissenen Königreich Belgien.
Natürlich darf man die Stadt nicht verlassen, ohne eine Tüte Pommes frites geleert zu haben. Besser als hier wird man sie kaum bekommen. Wohl jeder Belgier und jede Belgierin hat noch eine Szene aus Kindertagen im Kopf, als er oder sie ausgehungert mit einer Tüte Pommes frites unter dem Vordach einer Frittenbude stand. Kein späteres kulinarisches Erlebnis kann damit verglichen werden. Darin stimmen Flamen und Wallonen überein.
INFORMATIONEN
Anreise: Lüttich liegt nur etwa eine halbe Autostunde von Aachen entfernt. Auch mit dem Thalys ist Lüttich über Köln und Aachen sehr schnell und bequem zu erreichen.
Corona-Lage: Touristische Ausflüge nach Belgien sind zunächst bis 1. April verboten, so das Auswärtige Amt.
Informationen: Tourismusverband der Region Lüttich: info@visitezliege.be, www.visitezliege.be