Von Stefanie Bisping
Salzburg ist die Heimat vieler Wunder, und auch, wer den Kapuzinerberg nicht über die Kletterrouten des "City Wall" erklimmt, kann sich hier mitten in der Stadt ein bisschen fühlen wie im Gebirge. Elf Kreuzwegkapellen säumen den Aufstieg, so dass man den Weg - oder die rund hundert Stufen neben ihm - auch auf Knien zurücklegen kann. Schließlich bedeutet ein Berg immer auch eine Prüfung. Selbst, wenn er eigentlich ein Hügel ist. 636 Meter hoch ist Salzburgs Hausberg, und wiewohl die Stadt bereits auf vierhundert Metern liegt, ist der Stefan-Zweig-Weg, der mit einem Torbogen in einer Häuserzeile der Linzer Gasse ganz unauffällig beginnt, steil.
Das Schlösschen aus dem 17. Jahrhundert, das der große Schriftsteller 1917 noch im Krieg kaufte, liegt kurz vor dem Kapuzinerkloster links am Weg. Es bedurfte umfassender Maßnahmen, um die mit der Befestigungsmauer verbundene Neun-Zimmer-Villa in bewohnbaren Zustand zu versetzen. Doch 1919 bezogen Stefan Zweig, seine zukünftige Frau Friderike von Winternitz und deren zwei Töchter aus erster Ehe das Paschinger Schlössl. Schon damals war der Bau nicht nur alt, sondern auch historisch bedeutsam: Nannerl Mozart, die ältere Schwester des Salzburger Über-Komponisten, ging Ende des 18. Jahrhunderts als Klavierlehrerin der Töchter des Hauses ein und aus.
Zweig überzeugte vor allem die Lage: "Der kleine bewaldete Hügel, auf dem ich wohnte, war gleichsam die letzte abklingende Welle dieses gewaltsamen Bergzugs (der Alpen); unzugänglich für Autos und nur auf einem drei Jahrhunderte alten Kalvarienweg mit mehr als hundert Stufen zu erklimmen, bot er als Entgelt für diese Mühsal von seiner Terrasse einen zauberhaften Blick über Dächer und Giebel der vieltürmigen Stadt", so erinnerte er sich in "Die Welt von Gestern". Der Weg auf den Berg war unbeleuchtet, als die Zweigs sich einrichteten. Auch das trug zur Häuslichkeit über den Dächern und Türmen der Stadt bei. Der Aufstieg regulierte außerdem Besuche; im Winter machten Schnee und Eis sie oft nahezu unmöglich. Thomas Mann, Artur Schnitzler und James Joyce waren nur einige der Kollegen, die es im Lauf der Jahre dennoch hinaufschafften. Und auch Stefan Zweig mutete sich den Weg hinab zu. Ihn lockten die Kaffeehäuser, schließlich war er gebürtiger Wiener.
Im Schlösschen richtete Zweig sich eine umfangreiche Bibliothek ein. Er erwarb ausgesuchte Antiquitäten - darunter den Schreibtisch Ludwig van Beethovens -, rare Manuskripte und Partituren. Und er schrieb, nach einer Schätzung Friderikes rund zweihunderttausend Seiten. Neben Novellen, Essays und Dramen verfasste er hier seine unsterblichen "Sternstunden der Menschheit", die Biografie Marie Antoinettes und die "Verwirrung der Gefühle". Rasch durchliefen seine Bücher zahlreiche Auflagen; Zweig wurde einer der meistgelesenen und meistübersetzten Autoren seiner Zeit. Mit der Machtergreifung der Nazis fanden die produktiven und erfolgreichen Salzburger Jahre ein jähes Ende. Denn Stefan Zweig war nicht nur Pazifist, er war auch Jude.
Dass er Hitlers Domizil auf dem Obersalzberg von seinem eigenen Haus aus sehen konnte, wie er gelegentlich schrieb, war dichterische Überspitzung; die geografische Nähe eignete sich jedoch auch ohne Blickkontakt für intensives Unbehagen. Nachdem er im Februar 1934 Besuch von der Polizei bekommen hatte, verließ er Salzburg überstürzt und emigrierte - ohne Friderike - nach England. Im April 1938 wurden seine Bücher in Salzburg verbrannt; in Deutschland hatte er es schon drei Jahre zuvor auf die Liste verbotener Autoren geschafft. 1940 ging er mit seiner zweiten Frau Charlotte Altmann nach Brasilien. Im Februar 1942 , als der Sieg Nazi-Deutschlands unaufhaltsam schien, nahmen er und Charlotte sich im Städtchen Petrópolis das Leben.
Das Schlösschen hatten die Zweigs 1937 an eine Salzburger Familie verkauft, in deren Besitz es sich noch heute befindet. Zu besichtigen ist es nicht, da Nachfahren der Käufer von einst die gelb gestrichene Villa bewohnen. Die beiden älteren Herren verspüren keine Lust, ihren Garten mit einem Strom von Zweig-Pilgern zu teilen. Bergflaneure können daher nur durch einen Zaun auf das literarisch so bedeutsame Schlösschen blicken. "Privatbesitz - Durchgang verboten", mahnt ein kleines Schild neben dem Gartentor, das Friderike entworfen und ihrem Stefan geschenkt hatte.
An Zweig, Friederike und die Töchter erinnern heute vier Stolpersteine im Boden vor dem Anwesen. An den Mauern des Kapuzinerklosters gleich gegenüber prangt zudem eine von Josef Zenzmaier gefertigte Büste des Schriftstellers. Aber erst seit 1981. Bedeutend kleiner als das Mozart-Denkmal ist sie außerdem. Womöglich ist es leichter, sich eines musikalischen Genies aus dem 18. Jahrhundert zu erinnern als eines noch so erfolgreichen Schriftstellers, den sein Land vor wenigen Generationen nicht zu schützen vermochte. Auch das Sträßchen, das über den Berg führt, heißt offiziell Kapuzinerberg - das Schild mit der Aufschrift "Stefan-Zweig-Weg" ist schmückende Dreingabe. Tatsächlich trägt bis heute keine Straße und kein Platz im Herz der Stadt den Namen des berühmten Literaten. Derzeit werden in Salzburg Unterschriften gesammelt, damit Zweig endlich auch im Straßenverzeichnis zu seinem Recht kommt.
Am nächsten kommen Salzburg-Urlauber ihm über der Stadt, auf dem Mönchberg auf der anderen Seite der Salzach. Ein halbstündiger Spaziergang führt den Kapuzinerberg hinab, über die Staatsbrücke und durch die schönen Gassen der Altstadt bis zur Clemens-Holzmeister-Stiege. Wieder gilt es, einen Berg zu erklimmen, um dem Dichter nahe zu sein. Auf dem Mönchberg wurde 2008 in der Edmundsburg, einem über der Felsenreitschule gelegenen Bau aus dem 17. Jahrhundert, das Stefan Zweig-Zentrum gegründet. An dieser Stelle stapelt sich die Geschichte der Stadt buchstäblich in die Höhe: Die Felsenreitschule entstand in Folge des Steinabbruchs für den Bau des Salzburger Doms. 1926 wurde sie zu einem Spielort der Festspiele. Viele Stufen höher liegt in der Edmundsburg das Museum, das den Wahl-Salzburger Zweig ehrt.
Briefe, Fotos, eine schwere, schwarze Schreibmaschine und Ausgaben seiner Werke sind hier zu sehen; in fünf Kapiteln beleuchtet die Ausstellung Zweigs Leben und die Epoche. Sein Schicksal wird dabei nicht als isoliertes historisches Ereignis betrachtet: "Auch Stefan Zweig war ein Flüchtling, auch er war Opfer einer aggressiven Hetze", erklärt Klemens Renoldner, Direktor des Zentrums. "Dass man in reichen Ländern heute mit Hetze gegen Flüchtlinge Wahlen gewinnen kann, schreit zum Himmel."