Von Win Schumacher
Schöne Aussicht für die Gehenkten! Endloses Hügelland und dunkle Wälder ringsum. Vom Beerfelder Galgenberg sieht man über die Täler und Anhöhen des Odenwalds. Der Blick ins Weite gehörte einst zum Konzept: Im Mittelalter sollte den Todgeweihten noch einmal die Schönheit der Erde vor Augen stehen, bevor man ihre Seelen ins Jenseits schickte.
1804 soll als letzte Delinquentin eine Zigeunerin in Beerfelden hingerichtet worden sein. Weil sie ein Huhn und zwei Laib Brot für ihr krankes Kind stahl. Laut fluchend und wehklagend soll sie hier oben gestanden haben, bevor man sie henkte. So will es die Überlieferung.
In historischen Quellen vom Beginn des 19. Jahrhunderts finden sich keine Spuren von der letzten Gehenkten. Historiker vermuten, dass die Schauergeschichte erdichtet wurde, um Sommerfrischler aus den Städten in den Odenwald zu locken. Noch heute kommen Wanderer wegen der mittelalterlichen Richtstätte hier vorbei. Die Odenwälder sind stolz auf ihren Galgen. Er ist eines der letzten Exemplare in Europa und gilt als das besterhaltene in ganz Deutschland.
Die Region zwischen Rhein, Neckar und Main ist ein Land dunkler Mythen und Sagen. Laut Nibelungenlied hat Siegfried hier im Drachenblut gebadet und Hagen von Tronje seine tödliche Lanze gezückt. Gleich mehrere Orte im Odenwald behaupten von sich, Schauplatz des hinterlistigen Mords an Siegfried aus der mittelalterlichen Heldensage gewesen zu sein.
Die Erbacher AltstadtAuch sonst hat der Odenwald viel sagenhafte Geschichte bewahrt, deren Spuren anderswo längst verschwunden sind. Überall kann man römische Ruinen und alte Ritterburgen entdecken. Jedes Städtchen preist seinen Marktplatz, seine Fachwerkgassen und Stadtmauern als die schönsten im Land. Mit dem karolingischen Kloster Lorsch, der Fossilienlagerstätte Grube Messel und dem Limes steht der Odenwald gleich drei Mal auf der Unesco-Liste des Welterbes. Seit 2004 ist der Odenwald auch Unesco-Geopark, Prädikat für eine geologisch einzigartige Naturlandschaft. Kaum eine andere Region in Deutschland wurde von der Unesco mit so vielen Auszeichnungen bedacht. Dennoch haben die schmeichelhaften Würdigungen dem Tourismus in der Region bisher nur wenig Rückenwind gegeben.
Der Odenwald war anders als andere deutsche Mittelgebirge wie der Schwarzwald nie ein Reiseziel, das sich besonders anschickte, in aller Welt bekannt zu werden. Ausländische Touristen bekommen die bewaldeten Hügel meist nur aus der Ferne vom Heidelberger Schloss aus zu sehen. Selbst in der Hauptreisezeit kommt es vor den bekanntesten Sehenswürdigkeiten kaum zu großen Menschenaufläufen. Wanderer haben die Waldwege oft ganz für sich allein.
Jetzt, inmitten der Corona-Krise, scheint das Naherholungsgebiet in Tagesausflugsnähe zu Mannheim, Stuttgart, Würzburg und dem Rhein-Main-Gebiet der ideale Ort, um sich auf einsame Pfade zurückzuziehen, wo man Menschen und Viren getrost aus dem Weg wandern kann.
Wen dabei Nostalgie nach fernen Grenzen umtreibt, der kann sich immerhin auf stillen Waldpfaden zum Dreiländer-Stein bei Hesselbach aufmachen. Ein schlichter Steinpfahl von 1837 markiert die Stelle, wo Baden-Württemberg, Bayern und Hessen aufeinandertreffen. Seinerzeit war der Odenwald Grenzland zwischen den Großherzogtümern Baden, Hessen und dem Königreich Bayern unter Ludwig I.
Stadtmauer mit Turm in MichelstadtAllein der stillen Grenzübertritte wegen im Odenwald zu wandern, wäre jedoch wahrlich schade. Einige der schönsten Sehenswürdigkeiten lassen sich auch jetzt bestaunen – zumindest von außen. Die Hirschgalerie mit Europas bedeutendster Geweihsammlung und das deutsche Elfenbeinmuseum im Erbacher Schloss wird man sich freilich für bessere Zeiten aufheben müssen. Sie sind vorerst noch geschlossen. Zumindest kann man noch durch den nahen Lustgarten schlendern.
So manche Ruine tief im Wald, wie Burg Wildenberg bei Kirchzell oder Dauchstein und Stolzeneck über dem Neckar, wird man sich nur selten mit vielen anderen Wanderern teilen müssen. Auch auf den Limeswanderwegen zwischen Miltenberg und Osterburken wird man auf vielen Abschnitten kaum einem Menschen begegnen.
In den Odenwälder Städtchen, die sonst viele Wochenend-Ausflügler anziehen, sind derzeit nur wenige Menschen unterwegs. Hier gilt dennoch: Abstand halten zu den Besuchern. Das berühmte spitztürmige Fachwerk-Rathaus am Michelstädter Marktplatz diente schon als Kulisse für Heimatfilme, als Sonderbriefmarken-Motiv und Titelbild für Deutschland-Kalender. Seit seiner Einweihung um 1484 ist das spätgotische Gebäude fast unverändert geblieben. Mit dem engelsbewachten Marktbrunnen, den Kirchtürmen und Fachwerkgiebeln im Hintergrund ist es zum Inbegriff kleinstädtischer Idylle geworden.
Nicht weit vom Rathaus hat Bernd Siefert sein Café in einem ehemaligen Bauernhaus. Der Konditorweltmeister von 1997 war für Seminar- und Vortragsreisen rund um die Welt unterwegs, kreierte seine Köstlichkeiten für Politiker und Prominente und trainiert heute die deutsche Konditor-Nationalmannschaft. Hinter aufgetürmten Marmeladengläsern und Schokoladenbergen serviert der Pâtissier Odenwälder Kartoffeltrüffel und Michelstädter Rathaustorte. Kurios: Eigens als Trostproviant in Corona-Zeiten hat der Meister einen Baumkuchen als Klopapierrolle entworfen – das skurrile Naschwerk ist für 25 Euro auch im Online-Handel über die Internetseite des Cafés zu erwerben. In den Geheimrezepten für seine Confiserie spielt Siefert sonst gerne mit Zutaten, wie man sie nie in einer Praline erahnen würde. Es darf auch einmal eine Bohnenpastenfüllung oder ein Tomaten-Trüffel mit Bacon-Karamel sein. Auf internationalen Wettbewerben hat er auch das Michelstädter Rathaus schon in Zucker, Schokolade und Marzipan präsentiert.
Wenn man das edle Gebäck, die Kuchen und Pralinen im Moment auch nicht vor Ort probieren kann, so kann man sie sich immerhin noch für zuhause mitnehmen oder als Wegzehrung für die Wanderung in die Umgebung.
Galgen in BeerfeldenAuch im nahen Erbach finden fernwehgeplagte Wanderer unerwartete Exotik. Im Zentrum des Kreisstädtchens werben Wirtshausschilder und die Auslagen von Schmuckläden für ein ungewöhnliches Kunsthandwerk: In Erbach liegt Europas Elfenbeinzentrum.
Die Elfenbeinschnitzerei hat eine lange Tradition im Odenwald. 1783 gründete Franz I. zu Erbach-Erbach die Zunft der Elfenbeinschnitzer, nachdem er auf Reisen durch Europa Gefallen an der edlen Handwerkskunst gefunden hatte. Der gelehrte Graf führte die Aufklärung und den Klassizismus im Odenwald ein. Als junger Mann hatte er an Ausgrabungen in Pompeji teilgenommen und war häufig Gast am Wiener Hof. Seine römische Sammlung von Vasen und Büsten aus Italien ergänzte er durch Ausgrabungsstücke vom Odenwald-Limes.
Nachdem auf der Weltausstellung 1873 in Wien die Erbacher Elfenbeinrose ausgezeichnet wurde, lebte fast ein Viertel der Stadt von der Verarbeitung des weißen Golds. Bereits um 1900 war diese Blütezeit schon wieder zu Ende, als man in Hongkong und anderen asiatischen Metropolen erfolgreich begann, die Erbacher Rose zu kopieren.
Viele glaubten an das Verschwinden der Elfenbeinschnitzerei mit dem Welthandelsverbot 1989. Letztendlich hat das Washingtoner Artenschutzabkommen aber mit dazu beigetragen, dass die verkrustete Tradition sich neu entwickelte. Seither werden alternative Werkstoffe wie Bein, Horn, fossiles Mammut-Elfenbein und inzwischen auch Tagua-Nüsse von südamerikanischen Palmen verarbeitet.
Das Deutsche Elfenbeinmuseum mit seiner weltweit einzigartigen Sammlung wurde 2016 im Erbacher Schloss neu eröffnet. Die Stadt hat für die wertvollsten Exponate vom Mittelalter bis zur Moderne mehr Platz geschaffen. Die neue Ausstellung gewann bereits mehrere Preise für ihr besonderes Lichtdesign, die multimediale Installation und Architektur. Neben barocken Prunkskulpturen mit zerbrechlichem Dekor und feingliedrigen Schmuckstücken finden sich nun auch eindrucksvolle Skulpturen aus Afrika, China, Japan, Indien und Grönland. Der alte Elfenbeingraf hätte sicher seine Freude daran. Bleibt zu hoffen, dass die einmalige Ausstellung auch bald wieder wissbegierigen Wanderern zugänglich ist.