Von Wibke Helfrich
Suzanna ist Germanistikstudentin, arbeitet aber parallel auch als deutschsprachige Führerin im "History Museum of Armenia". Mit knapp 150 Euro monatlich muss sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Im akzentfreien Deutsch führt Suzanna Touristen durch die unzähligen Räume des Museums und erzählt - trotz des mageren Gehaltes - mit Begeisterung von der langen und reichen Geschichte ihres Landes. Bis vor kurzem war ihre Zukunftsvision, nach ihrem Studium in Deutschland eine Arbeit zu finden. Jetzt, da ein neuer Wind im Land weht, hat sie neue Hoffnung geschöpft, dass die seit der sowjetischen Besatzung dominanten oligarchischen Strukturen aufgelöst werden können. Denn selbst wenn das Land dem Namen nach eine Demokratie ist, so ruhen Macht und Geld doch in der Hand weniger in diesem bitterarmen Land. Für gut ausgebildete Armenier, die sich einen angemessenen Lohn für ihre Arbeit erhoffen, hilft da nur die Flucht ins Ausland. Seit Jahren verlässt die junge Intelligenzia das Land - und zurück bleiben meist nur die Alten und schlecht Ausgebildeten.
Unser Reiseführer Ara war aktiver Teil der Revolution, jeden Tag ist er mit seiner Familie und Freunden für eine bessere Zukunft auf die Straße gegangen. Über die sozialen Medien hielt Oppositionsführer Nikol Paschinjan seine "samtene" Revolution am Leben - so wussten seine Anhänger immer, wann und wo die Demonstrationen stattfinden werden. Jetzt hat Ara glücklicherweise wieder Zeit, uns Land und Leute zu zeigen.
Ein melancholischer Flötenhauch schwebt über die Klippe an der Flussschleife des Azat. Hier thront exponiert der Tempel von Garni, eine der meist besuchten Sehenswürdigkeiten Armeniens. Die laut schwatzenden Touristen und Einheimischen verstummen und versuchen den Ursprung des Klanges zu orten. In dem kleinen Innenraum des römischen Tempels, der von 24 ionischen Säulen getragen wird, spielt ein grauhaariger Herr auf einem Duduk. Diese aus Aprikosenholz gefertigte Flöte ist das Nationalinstrument Armeniens und wurde beispielsweise auch für die Oscar-prämierte Filmmusik von Gladiator verwendet. Die sehnsuchtsvolle Melodie macht es leichter, sich den Glanz des Landes in vergangenen Tagen vorstellen zu können. In Armenien gibt es unzählige alte Schätze - in Form von Gebäuden, Geschichten, Religion und Kultur.
Es ist ein Land der Kontraste: Jerewan ist eine moderne Hauptstadt mit prunkvollen Boulevards, einer ausgeprägten Kaffeehaus-Kultur und viel Leben. Kein Wunder, hier wohnt mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Auf dem Land hingegen sind die Dörfer oft traurig und verlassen - hier regiert noch der klassische "Ost-Schick", fast 70 Jahre sowjetische Herrschaft haben Spuren hinterlassen. Stillgelegte Industrieanlagen in karger Landschaft erinnern den Reisenden an Mordor. Doch nur ein paar Meter weiter wartet an jeder Ecke eine großartige Überraschung: Jahrtausendealte Klöster liegen in versteckten Tälern an und in den Fels geschmiegt. Priester packen bei Bauarbeiten mit an, segnen Tieropfer und halten spirituelle Messen ab. Das Essen bietet orientalischen Hochgenuss: Lammfleisch, Kebab, frisches Gemüse, knackiger Salat, Nüsse und Früchte dürfen bei keiner Mahlzeit fehlen. Hohe Berge, Wanderwege und ein großer See - eigentlich kann das kleine Land alle Reisebedürfnisse befriedigen.
Fragt man Ara, eigentlich ein ausgebildeter Archäologe, dann sind die Armenier so etwas wie die Schweizer aus der Werbung für das bekannte Hustenbonbon. Denn grundsätzlich ist seine Antwort auf "Wer hat es erfunden?" (War erster? Hat die älteste Kultur? etc.) - "Die Armenier." Allerdings fügt er auch gleich hinzu, dass die Armenier schon immer allen im Weg waren: erst den Persern, dann dem osmanischen Reich (in dessen Zeit auch der traumatische Völkermord stattfand), den Russen, den Aserbaidschanis. Jeder versuchte, die Kultur des kleinen christlichen Landes - eingepfercht zwischen mächtigen Nachbarn - einzunehmen. Und das mit Erfolg - im Mittelalter umfasste das armenische Staatsgebiet fast 400.000 Quadratkilometer, erstreckte sich vom Mittel- bis zum Kaspischen Meer, inklusive Ost-Anatolien mit Erzurum und Van. Davon sind im Laufe der Geschichte und vieler kriegerischer Auseinandersetzungen nur knapp 30.000 Quadratkilometer übrig geblieben. Heute grenzt Armenien im Norden an Georgien, im Osten an Aserbaidschan, im Südosten an den Iran, im Süden an die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan und vom Südwesten bis Westen an die Türkei. Das Kloster "Noravank" aus dem 13. Jahrhundert ist ein Beispiel für das Versteckspiel, das die Armenier jahrtausendelang mit ihren Nachbarn spielen mussten. Tief in der Amaghu-Schlucht gelegen, ist es nur über eine schmale Straße zu erreichen, die durch die ziegelroten Felsklippen führt. Nach einigen Kilometern weitet sich das Tal und eröffnet den Blick auf den Klosterkomplex, der hier auf einer leichten Anhöhe die Jahrhunderte überdauerte.
Nur knapp eine Million Besucher verzeichnet das Land pro Jahr. Neben den im Ausland lebenden Armeniern sind dies meist Russen, für die das Reisen hier einfach und günstig ist, da die meisten Armenier durch die lange sowjetische Besatzung noch russisch sprechen. Derzeit besuchen vor allem deutsche Pilgerreisende das christliche Land und seine unzähligen uralten Kirchen. Eigentlich schade, denn auch für Outdoor-Enthusiasten gibt es hier viel Ursprüngliches zu entdecken: Wandern, Bergsteigen, Mountainbiken, Reiten, Paragliden, Klettern. Zugegeben, die meisten Wanderwege sind (noch) nicht gut ausgeschildert und vieles steckt noch in den Kinderschuhen, aber darin steckt ja auch der Zauber des Besuchs in diesem noch fast unentdeckten Reiseland. Doch es gibt gut ausgebildete Führer, die den Aufenthalt nicht nur leichter gestalten - außer in Jerewan wird kaum Englisch oder Deutsch gesprochen -, sondern auch durch ihre Geschichten zu Land und Leuten viel spannender machen.
Ara ist sehr stolz auf Land und Kultur und versucht für dessen Erhalt zu kämpfen. Die Waffen seiner Wahl sind sein Handy und die sozialen Medien: Müllberge in der Nähe eines neu aus der Erde gestampften Resorts für russische Abenteuer-Touristen werden genauso auf Facebook geteilt wie illegale Baumfällarbeiten, auf die wir bei einer Wanderung treffen. Akribisch verschickt er Koordinaten und Fotos. Ein kleines Sandkorn im Getriebe der hier momentan noch überall grassierenden Korruption. Aber die Hoffnung besteht, dass genügend Sandkörner zusammenkommen, um die Bestechung zu stoppen. Der erste Schritt dafür ist getan …