Kykladen-Insel Naxos

Streetart in Hotelruine von Alyko

Wilde Räuberpistolen ranken sichum den Bau, bei dem es nicht mit rechten Dingen zuging.

30.09.2023 UPDATE: 30.09.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 17 Sekunden
Die Wände der Hotelruine von Alyko zieren unzählige Streetart-Kunstwerke.
Alle Fotos: Noemi Girgla

Von Noemi Girgla 

Als wir in Naxos Stadt die Fähre verlassen, fällt mein Blick zuerst auf die Portara. Dieses Wahrzeichen der Insel gehörte zu einem Apollon-Tempel, der jedoch nie fertiggestellt wurde. Auf der To-do-Liste steht weit oben auch ein Besuch des Kouros von Flerio, einer fast fünf Meter großen Statue aus Marmor, die – wie so manches auch modernere Projekt auf der größten Kykladeninsel – unvollendet zurückgelassen wurde. Um Naxos zu erkunden, haben wir als Ausgangsbasis Kastraki gewählt. Das Dorf liegt zwar nur rund 16 Kilometer von Naxos Stadt entfernt, dennoch dauert die Fahrt über eine Straße im Inselinneren eine halbe Stunde. Während wir die Orte Agios Prokopios oder Agia Anna passieren, bin ich froh, etwas Abgelegeneres gebucht zu haben.

Hintergrund

Infos:

Anreise: Naxos verfügt zwar über einen kleinen Flughafen, wird von Deutschland aber nicht direkt angeflogen. Am besten fliegt man nach Athen. Von hier geht es mit einem kleinen Flugzeug oder der Fähre weiter.

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Infos:

Anreise: Naxos verfügt zwar über einen kleinen Flughafen, wird von Deutschland aber nicht direkt angeflogen. Am besten fliegt man nach Athen. Von hier geht es mit einem kleinen Flugzeug oder der Fähre weiter.

Unterkunft: Das Naxos Summerland Resort liegt rund 16 Kilometer entfernt von Naxos Stadt. Es bietet Zimmer, Studios und Apartments ab 67 Euro pro Nacht.

Mietwagen: Es empfiehlt sich, direkt in Naxos Stadt einen Mietwagen zu nehmen. Kastraki selbst verfügt über keine Autovermietung.

Alyko: Die Hotelruine von Alyko ist nur eine knappe Viertelstunde von Kastraki entfernt. Außerhalb des unter Naturschutz stehenden Zedernwaldes gibt es inzwischen auch ein paar Hotels.

Weitere Infos: www.naxos-info.de; www.visitgreece.gr

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Die Hauptsaison ist Ende September fast vorbei, und in Kastraki sagen sich zu dieser Zeit Fuchs und Hase gute Nacht. Entlang des langen Sandstrandes finden sich nur vereinzelte Sonnenanbeter, die ebenso wenig Lust haben wie wir, sich direkt an das nächstgelegene Handtuch anzureihen. Diese Ecke ist vom Massentourismus weitestgehend verschont geblieben. Dass das aber auch ganz anders hätte kommen können, erfahren wir erst einige Tage später.

In guter griechischer Manier halten wir nach einem erlebnisreichen Tag ein Schwätzchen mit dem Hoteleigentümer. Hier höre ich zum ersten Mal von der verlassenen Hotelruine von Alyko. Wilde Räuberpistolen ranken sich um diesen Ort. Der Hotelier erzählt uns, dass der Bau nur ein Vorwand für illegale archäologische Ausgrabungen gewesen sei, ein weiterer Einheimischer will wissen, dass dort in 70 Metern Tiefe nach einem versunkenen Flugzeug getaucht wurde. Zwar klingt der Verdacht einer mutmaßlichen Raubgrabung in Bezug auf die Geschichte der Kykladeninsel ganz plausibel. Doch nach intensiver Recherche entpuppt sich die Wahrheit hinter dem Bau der Hotelruine als wesentlich undurchsichtiger.

So fahren wir am nächsten Tag etwa eine Viertelstunde Richtung Süden, bis noch vor Pyrgaki einer der größten Zedernwälder Griechenlands vor uns auftaucht. Vom Parkplatz geht es zu Fuß weiter, bis ein riesiger Gebäudekomplex auftaucht. Zwar hatten wir am Abend zuvor bereits gehört, dass die nackten Betonwände inzwischen von Streetart-Künstlern für ihre Werke genutzt werden, doch was sich da auftut, verschlägt einem den Atem. Riesige Wandgemälde in bunten, knalligen Farben leuchten uns entgegen. Hier ein Porträt, dort ein komplexes, perspektivisch angelegtes Werk, dessen Ausmaß und Konzeption sich erst aus verschiedenen Blickwinkeln gänzlich erschließen lässt. Gut, dass einige Markierungen auf dem Boden angebracht sind, von denen aus sich die Details der Arbeiten erst wirklich erschließen lassen. Signaturen des griechischen Streetart-Künstlers Skitsofrenis finden sich nicht weit des Kürzels "WD", das für "wild drawing" steht und auf einen balinesischen Künstler verweist, der bekannt ist für seine 3D-Wandgemälde.

Im Inneren der Ruine sind die Bilder düsterer, teilweise politisch angehaucht. Lebensweisheiten sind an die Wände gesprayt. Die Kunstwerke stimmen mal nachdenklich, mal entlocken sie einem ein Lachen. Und doch sollte man genau aufpassen, wo man hintritt, während man versucht, kein Detail und kein Graffito zu verpassen. Große Löcher klaffen im Boden, Metallstreben ragen aus Wänden oder Decke. Zum Glück haben wir eine Taschenlampe dabei und wagen uns auch in die ganz dunklen Korridore vor. Selbst hier sind Graffiti zu finden. Plötzlich tut sich ein Durchgang auf, und wir stehen an einem Bootsanlegesteg. Vor uns nur das Meer und der gegenüberliegende Strand.

Zeit für einen zweiten Blick auf die Ruine – abseits der Wände. Die Natur hat bereits große Teile der Anlage zurückerobert, ist sogar bis ins Innere des Gebäudes vorgedrungen. Es ist ein skurriler Anblick, wie hier ein tapferes, dünnes Bäumchen neben einem ausrangierten Boot und einer zerbrochenen Badewanne steht. Doch warum ist der Hotelbau so weit fortgeschritten, wenn das hier alles nur Fassade für illegale Machenschaften sein sollte?

Die Antwort findet sich in alten Zeitungsartikeln und Gerichtsunterlagen. Jenseits der Räuberpistolen ist die Hotelruine stiller Zeuge eines Justizskandals, der in den 1960er-Jahren begann und erst 2010 seinen Abschluss fand. Die Rechtsstreitigkeiten um die Besitzverhältnisse von Alyko kamen bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf. Trotz einer klaren gerichtlichen Entscheidung im Jahr 1946, die das gesamte Gebiet auf der kleinen Halbinsel zu kommunalem und öffentlichem Wald erklärte, beanspruchten manche Einheimische Teile für sich – zahlreiche Untersuchungen und Auseinandersetzungen folgten.

Dubiose Besitzurkunden tauchten auf und wechselten den Besitzer, bis Ende der 60er-Jahre ein belgischer Investor auf der Bühne erschien. Die ursprünglichen (illegitimen) "Eigentümer" sollen dieser Firma damals die gesamte Halbinsel verkauft haben. Es regte sich Widerstand, als die Investoren das Gebiet einzäunten, massiv in die Natur eingriffen und das Projekt vorantrieben, an einem der schönsten Strände der Insel auf 7500 Quadratmetern insgesamt sechs riesige Hotels zu errichten. Doch der politische Wind hatte sich gedreht. Im April 1967 war die Junta, die griechische Militärdiktatur, nach einem Putsch an die Macht gekommen. Und die hatte durchaus ein Interesse an dem ausländischen Investor – beziehungsweise dessen Geld. So wurde entgegen vorheriger Urteile Alyko 1969 kurzum zum Privatwald erklärt.

Der Überlieferung nach ist es einigen mutigen Menschen, die den Einschüchterungsversuchen der Junta über Jahre trotzen, zu verdanken, dass sich kontinuierlich Widerstand regte – was den Bau des Betonkomplexes verzögerte. Sehr zum Leid der belgischen Investorfirma, die behauptete 20 Millionen Dollar nach Griechenland gebracht und bereits touristische Projekte im Wert von 25 Millionen Drachmen vorangebracht zu haben. Als die Junta 1974 fiel, lag eine Anklageschrift gegen alle in- und ausländischen "Eindringlinge" auf dem Gebiet von Alyko bereits seit drei Jahren in einer Schublade. Erst 1982 wurde der Fall erneut aufgerollt.

Bevor 1985 der erste Artikel über das umstrittene Projekt erschien, hatten sich zahlreiche Legenden um den Ort gesponnen. Einige davon dürften wir gehört haben. 1993 verkaufte der belgische Investor schließlich das Land, dessen Besitzverhältnisse erst 2001 geklärt werden sollten: Alyko gehört dem griechischen Staat. Die Berufungsverfahren sollten neun weitere Jahre andauern.

Inzwischen steht der Zedernwald von Alyko unter besonderem Naturschutz. Erst im Januar 2023 wurde wieder der Antrag gestellt, den verlassenen Betonklotz abzureißen. "Das geht aber nicht", erklärt uns der Hotelmanager, als wir nach Kastraki zurückkommen. "Der Naturschutz beinhaltet unter anderem, dass keine schweren Baugeräte, die für den Abriss nötig wären, in dieses Gebiet fahren dürfen." Also habe man sich überlegt, wie man der Ruine doch noch etwas abgewinnen könne, während sie langsam, von Sonne und Salzwasser angegriffen, verfällt. Die Antwort war ein Freiluft-Streetart-Museum – Begehung auf eigene Gefahr. Angeblich sollen Künstler aus der ganzen Welt jedes Jahr zurück nach Naxos kommen, um an ihren Werken weiterzuarbeiten. Solange die Ruine eben noch steht. Ob das stimmt, oder ob es sich dabei um eine weitere urbane Legende handelt, ließ sich nicht final klären. Aber als wir nach einer Woche wieder in Naxos Stadt an Bord der Fähre gehen und auf die Portara blicken, sind wir froh, dass auf dieser Insel eben nicht jedes Projekt zu Ende geführt wird ...

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