Bemalte Wände

Wenn Mauern zu Leinwänden werden

Sind bemalte Wände Ärgernis oder große Kunst? Bei Spaziergängen durch Europas bunte Streetart-Vielfalt fällt die Entscheidung leicht

13.11.2025 UPDATE: 15.11.2025 12:53 Uhr 3 Minuten, 41 Sekunden
Der Bruderkuss zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew von Künstler Dmitri Wrubel gehört zu den bekanntesten Motiven der East Side Gallery in Berlin. Foto: dpa

Von Sandra Ehegartner

Kapitale der Streetart

Berlin 

Nicht nur in Deutschland, auch in Europa gilt Berlin als Kapitale der Streetart. Die "Leinwand" selbst ist dabei auch historisch und einzigartig, handelt es sich doch um die Überreste der Berliner Mauer. Ein Spaziergang beginnt am besten bei der East Side Gallery an der Mühlenstraße. Kurze Zeit nach dem Fall der Mauer entstand dort die längste Open-Air-Galerie der Welt. 118 Künstlerinnen und Künstler aus 21 Ländern bemalten auf 1,3 Kilometern die Mauer und gaben ihr ein neues, gutes Gesicht. Erinnerungen an ein geteiltes Land, Kommentare, Botschaften und Zukunftsvisionen sind eindrucksvoll und zum Teil hochemotional – und bunt – dargestellt.

Bestens bekannt, auch bei Graffitilaien, ist Dmitri Vrubels "Bruderkuss" zwischen Breschnew und Honecker. Wer noch nicht genug hat, besucht Kreuzberg. Dort sprießen bunte Farben und Botschaften, besonders rund um die Oranienstraße und den Görlitzer Park. Großflächige Murals wechseln mit kleinen Stencils und politischen Slogans. Im liberalen Trendviertel Prenzlauer Berg wurde die Streetart teilweise legalisiert und so bieten Hinterhöfe wie der vom "Haus Schwarzenberg" nahe der Hackeschen Höfe Flächen für Graffiti an.


Romantik trifft Rebellion 

Paris

Die eleganten Boulevards lassen ebenso wenig wie die symmetrische Architektur und die gepflegten Gärten vermuten, dass Paris auch anders kann. Bunt, wild und laut geht es auf den Wänden zu, und die Kunstwerke haben je nach Viertel andere Charaktere. Im südöstlich gelegenen 13. Arrondissement rund um die Rue Jeanne d’Arc oder in den Passagen von Montmartre haben Künstler im Rahmen des Projekts "Boulevard Paris 13" ganze Hochhausfassaden in Open-Air-Galerien verwandelt.

In Montmartre, dem 18. Arrondissement rund um Sacré-Cœur, gibt es kleine Passagen, Treppen und Plätze, die mit Stencils und Figuren geschmückt sind. Besonders schön sind die Rue des Trois Frères und die Rue Véron. Die Je-t’aime-Mauer am Place des Abbesses ist zwar streng genommen keine "echte" Streetart, aber wer schon da ist, sollte sie nicht verpassen.

Abwechslungsreich geht es an der Rue Saint-Maur im 11. Arrondissement Oberkampf zu. Alle zwei Wochen wird die 24 Quadratmeter große "Le M.U.R." von einem neuen Künstler gestaltet – vive la variété! Und auch die Seine ist inzwischen nicht mehr nur Heimat der malerischen Hausboote und Bateaux Mouches, sondern eine Ufergalerie. Temporäre Ausstellungen und Installationen unter freiem Himmel machen Spaziergänge entlang der Promenade abwechslungs- und lehrreich.


Streetart in Rom. Foto: srt/ Sandra Ehegartner

Antike Mauern, neue Farben

Rom 

Wer sich an antiken Monumenten, Kirchen und Ruinen sattgesehen hat, besucht das ehemalige Industrieareal Ostiense, wo Künstler riesige Murals auf Fabrikfassaden hinterlassen haben. Dort befindet sich auch das Sozialzentrum Città Ecosolidale in der Via del Porto Fluviale, Ecke Via del Gazometro. Es gilt als sogenanntes "smogfressendes" Kunstwerk, weil es mit einer speziellen Farbe produziert wurde, die Schadstoffe in der Luft reduzieren soll. Damit zählt es zu den größten umweltorientierten Murals in Europa.

Rom wäre indessen nicht Rom, wenn es nicht auch "seiner" Wölfin huldigen würde. Im angrenzenden Viertel Testaccio schmückt "La Lupa" auf 30 Metern Höhe eine gesamte Fassade. Nicht zuletzt, da aus diesem Viertel auch "il bimbo d’oro", das Goldkind des römischen Fußballs Francesco Totti, stammt, finden sich dort mehrere Hommagen an "La Roma". Auch der römische Sänger und Barde Lando Fiorini wird mit einem Mural in Testaccio geehrt. Wie aus einer nicht ganz so pittoresken Gegend viel Atmosphäre entstehen kann, zeigt sich in der Via del Trullo im gleichnamigen Stadtteil: Dort haben lokale Künstler die grauen Fassaden mit Gedichten, Gesichtern und großflächigen Wandbildern verwandelt und bewiesen, dass Grau nicht Grau bleiben muss, sondern eine Leinwand für Hoffnung und Freude sein kann.


Streetart in Athen. Foto: srt/ Gerd Otto Rieke

Zwischen Protest und Poesie

Athen

Wo sollte Streetart in allen Facetten erblühen, wenn nicht in der Wiege von Demokratie, freier Rede (für männliche, freie Bürger) und Kultur? Auch heute findet sich die teils recht deutliche, teils kunstvoll verbrämte freie Meinungsäußerung in Athens Stadtvierteln. Spannend ist, dass sie recht unterschiedliche Erscheinungsformen hat. Im Studentenviertel Exarchia ist beinahe jede Wand mit zum Teil zornigen und unverblümten Kommentaren zur Gesellschaft und ihren Problemen versehen.

Ruhiger geht es im Viertel Psirri neben dem Monastiraki-Platz zu. Das ehemalige Arbeiterviertel mit den kleinen Werkstätten, Tavernen und alternativen Bars ist heute ein Zentrum für urbane Kunst. Graffiti, Murals und kreative Botschaften von lokalen und internationalen Künstlern wechseln sich ab. Die Motive sind nicht ganz so schreiend wie in Exarchia, dafür humorvoller und zum Teil auch poetisch. Eindrucksvoll sind die "Owl Eyes" vom Künstler Wild Drawing. Im Gazi-Viertel, das für sein lebhaftes Nachtleben bekannt ist, laden die alten Industriegebiete förmlich zu großflächigen Murals ein. Internationale Künstler vereinen ihre Gesellschaftskritik dort gekonnt mit moderner Mythologie und surrealen Motiven.


Banksy und Beyound

London 

Um Streetart-Superstar Banksy ranken sich zahlreiche Legenden und Mythen. Seine Wiege steht zwar in Bristol, richtig Schwung aufgenommen haben seine Werke und sein Ruhm jedoch in der britischen Hauptstadt. Um sie genauer zu betrachten, eignet sich am besten ein Spaziergang durch das Shoreditch-Viertel im East End. Von kleinen Stickern bis hin zu fassadenfüllenden Werken ist alles zu finden. In der Brick Lane und ihren Seitenstraßen kommen auch andere Künstler "zu Wort". Banksy-Fans dürfen den "Banksy Tunnel" unter der Waterloo Station nicht versäumen. Dort befindet sich auch eine legalisierte Graffiti-Zone mit zum Teil täglich wechselnden Werken.

Weiter geht es im Norden Londons, in Camden, das bekannt für seine alternative und aktive Kultur ist. Dort sind fast alle Fassaden, Brücken und Hinterhöfe geschmückt. Besonders aktiv ist die Szene rund um den Camden Lock Market und den Kanal. Ferdinand Estate, Harmood Street und Hawley Mews bieten eine wahre Explosion an Kreativität und Kunstfertigkeit. Eine ähnliche Entwicklung scheint auch in East London gewünscht. Das ehemalige Industrieviertel hat sich heute der Kreativität verschrieben und bietet riesige Freiflächen für Murals – eine Sixtinische Kapelle für Streetart-Künstler sozusagen. Auch dort ist der Kanal Bühne für beeindruckende Arbeiten.