Plus Leere Lehrstellen

IHK Rhein-Neckar will Jugendliche und Firmen zusammen bringen

Für Unternehmen wird es immer schwieriger, Ausbildungsplätze zu besetzten. Jedoch tun sich etliche Jugendliche schwer, eine Lehrstelle zu finden. Die IHK will sie zusammenbringen.

27.06.2022 UPDATE: 28.06.2022 06:00 Uhr 6 Minuten, 6 Sekunden
Beim Tischkicker sollen potenzielle Azubis und Vertreter von Unternehmen zwanglos miteinander ins Gespräch kommen. Foto: Alfred Gerold

Von Barbara Klauß

Mannheim. Tausende Lehrstellen sind noch immer unbesetzt. Betriebe klagen massenhaft über fehlende Bewerber. Auf der anderen Seite stehen etliche junge Menschen, die partout keine passende Stelle finden können. Unternehmen und potenzielle Auszubildende finden offenbar nur schwer zueinander. Auch in diesem Ausbildungsjahr spiele das "Passungsproblem" eine entscheidende Rolle, hieß es kürzlich im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung. Zumindest rechnerisch, so der Bericht, wäre für jeden, der einen Ausbildungsplatz sucht, auch einer da. Dennoch blieben im Jahr 2021 deutschlandweit 63.200 Ausbildungsstellen offen – mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Gleichzeitig waren 24.600 Bewerberinnen und Bewerber unversorgt.

Die Corona-Pandemie hat das Problem, das länger schon besteht, in den vergangenen zweieinhalb Jahren noch verschärft: Wegen der Kontaktbeschränkungen fielen Ausbildungsmessen aus, Informationsveranstaltungen in den Schulen fanden nicht mehr statt, es gab kaum noch Möglichkeiten Praktika anzubieten. Nun stehen Wirtschaft und Politik gleichermaßen vor der Frage, wie Betriebe und Bewerber wieder in Kontakt kommen können? Eine mögliche Antwort darauf ist: beim Kickern.

Hintergrund

Minus auf dem Land: Im Bereich der IHK Rhein-Neckar gab es bis Ende Mai 2022.1513 neu eingetragene Ausbildungsverträge. Das sind knapp drei Prozent weniger als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres, das noch stark im Zeichen der Corona-Krise stand. Das größte Minus gab es im

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Minus auf dem Land: Im Bereich der IHK Rhein-Neckar gab es bis Ende Mai 2022.1513 neu eingetragene Ausbildungsverträge. Das sind knapp drei Prozent weniger als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres, das noch stark im Zeichen der Corona-Krise stand. Das größte Minus gab es im Neckar-Odenwald-Kreis (21 Prozent). In Heidelberg gab es dagegen ein Plus von 15 Prozent.

IHK deutlich im Minus: Die Anzahl der neueingetragenen Ausbildungsverträge ist im Bereich der IHK Rhein-Neckar in den vergangenen zehn Jahren deutlich gesunken. Und zwar von 4884 (2011) auf 3537 (2021).

Handwerk leicht im Plus: Im Bereich der Handwerkskammer Mannheim Rhein-Neckar-Odenwald gab es im vergangenen Jahr 1644 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge. Im Jahr zuvor waren es nur 1604. In Heidelberg ging die Zahl der Verträge von 234 auf nur noch 207 zurück.

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Rund zwei Dutzend Tischkicker stehen an einem sonnigen Vormittag mitten in der Baumhainhalle im Mannheimer Luisenpark in Reih und Glied. An ihnen spielen Vertreter von Unternehmen mit und gegen Jugendliche. Wer mit wem, das entscheidet das Zufallsprinzip. An welchem Tisch man wann mit wem ein Team bildet, zeigt eine App auf dem Smartphone an. Beim Kickern sollen die jungen Leute und die Unternehmensvertreter zwanglos miteinander ins Gespräch kommen, erklärt ein Sprecher der Industrie- und Handelskammer (IHK) Rhein-Neckar, die diesen "Karriere Kick" veranstaltet – während der Spiele, dazwischen oder auch sonst an den Info-Ständen, die am Rand der Halle aufgebaut sind.

39 Unternehmen sind zum "Karriere Kick" gekommen, darunter große wie Daimler oder ABB, Lidl, John Deere oder Freudenberg. Doch stellen sich auch kleine und mittlere Betriebe vor – "was uns sehr freut", wie der IHK-Sprecher sagt. "Diese Unternehmen tun sich besonders schwer, geeignete Bewerber zu finden."

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Vor einem der Stände am Rand der Halle steht Thorsten Kaufmann. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter der Firma Auler und Haubrich, einem Betrieb für Schädlingsbekämpfung mit Sitz in Mannheim. "Werde professionelle/r Schädlingsbekämpfer/in", steht auf den Faltblättern, die auf dem Tisch vor Kaufmann ausliegen. "Ein spannender Beruf mit Perspektiven."

Seit 100 Jahren gibt es den Betrieb, erzählt der Geschäftsführer. 14 Mitarbeiter beschäftigt er im Moment. Zudem würde er im laufenden Jahr gerne zwei Auszubildende einstellen – für den eigenen Bedarf, also mit der Option auf eine längerfristige Anstellung. Doch: Kaufmann findet einfach keine passenden Kandidaten. "Die Schädlingsbekämpfung ist eine Nische", meint er.

Auf den Ranglisten der beliebtesten Ausbildungsberufe taucht dieser üblicherweise nicht auf. Spitzenreiter bei den Frauen war 2021 dem Bundesinstitut für Berufsbildung zufolge die medizinische Fachangestellte, gefolgt von der Kauffrau für Büromanagement und der zahnmedizinischen Fachangestellten. Bei Männern stand der Kfz-Mechatroniker hoch im Kurs, gefolgt vom Fachinformatiker und dem Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik.

Vieles hat Kaufmann schon probiert, um für eine Ausbildung zum Schädlingsbekämpfer zu werben: er war beim Azubi-Speeddating, hat Werbebroschüren drucken lassen, ist auf Social Media unterwegs, unter anderem mit einem Werbefilm. "In die Suche nach Auszubildenden habe ich mittlerweile viel Geld investiert", sagt er. Und auch Veranstaltungen wie diese hier im Luisenpark kosten – nicht nur, weil man die Zeit aufbringen und das Personal freistellen muss. "Für uns Mittelständler ist das schwierig", sagt Kaufmann. "Aber wir brauchen Mitarbeiter", fügt er hinzu. "Sonst wird es in der Zukunft schwierig." Die fehlenden Azubis von heute sind die fehlenden Fachkräfte von morgen. Ein Problem, das vielen Unternehmen aber auch der Politik zunehmend Sorge bereitet.

Vom "Karriere Kick" erhofft sich Kaufmann, dass er den einen oder anderen Jugendlichen im zwanglosen Gespräch für den Beruf des Schädlingsbekämpfers interessieren kann.

Ein paar Meter entfernt steht eine Frau mit MVV-Shirt an einem der Kickertische. Sie schreit laut vor Freude, wenn ein Tor fällt, klatscht ihre Mitspielerin ab. Manchem Jugendlichen falle es in einer solch ungezwungenen Atmosphäre leichter, potenzielle Ausbilder anzusprechen, ihnen Fragen zu stellen, meint der IHK-Sprecher. Beim Kickern kommen sie ganz nebenbei mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus verschiedenen Unternehmen und Branchen ins Gespräch.

Tatsächlich scheinen viele der rund 220 Schülerinnen und Schüler, die an diesem Vormittag gekommen sind, sich vor allem informieren zu wollen, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt. Sie schaue sich nur mal um, sagt etwa die 16 Jahre alte Maja. Vielleicht will sie eine Ausbildung machen, vielleicht aber auch studieren. Business würde sie interessieren.

Die 17-jährige Jana möchte Bürokauffrau werden oder zur Polizei gehen. Bisher allerdings hagelte es nur Absagen – oder sie erhielt überhaupt keine Rückmeldung. Sie selbst erklärt sich das vor allem mit ihrer Mathenote. "Die ist nicht so gut", sagt Jana. In der Baumhainhalle hofft sie, noch auf einen anderen Beruf zu stoßen, der sie interessieren könnte. "Einen Plan B", wie sie sagt. "Ich schaue mich einfach ein bisschen um."

Karim ist 15 Jahre alt, hat einen Realschulabschluss, aber trotz etlicher Bewerbungen bislang ebenfalls keinen Ausbildungsplatz. Er würde gerne etwas Richtung Metall oder Technik machen, Anlagenmechaniker oder Industriemechaniker vielleicht. Doch auch seine Mathenote ist nicht gut. Er hat die Gelegenheit in der Baumhainhalle genutzt, jemanden am Stand einer der Firmen anzusprechen, von denen er eine Absage erhalten hat. Hier, in dieser lockeren Atmosphäre, wo alle per du sind, sei es leichter, auf jemanden zuzugehen, meint er.

Ob oder wie viele Ausbildungsverträge nach diesem Vormittag in der Baumhainhalle unterschrieben wurden, ist schwer zu ermitteln. Doch zeigt sich die IHK Rhein-Neckar zufrieden mit dem "Karriere Kick". Vor allem sei es gut gelungen, die steife Bewerbungssituation aufzubrechen, meint Harald Töltl, der bei der Kammer für die Berufsbildung zuständig ist. Zudem hat die IHK selbst jemanden gefunden, der dort wohl eine Ausbildung beginnen wird.

Die Veranstaltung hat also tatsächlich potenzielle Bewerber und Ausbilder zusammengebracht. Darüber, wie das im Großen gelingen kann, wird derweil auf der politischen Bühne heftig gestritten. So sieht etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Wirtschaft und Politik in der Pflicht: "Wer Fachkräfte haben will, der muss sie auch ausbilden", sagte die stellvertretende Vorsitzende Elke Hannack kürzlich der dpa und forderte eine verbesserte Berufsorientierung an Schulen. Zudem bekräftigte sie die Forderung nach einer Ausbildungsgarantie.

Die Gewerkschaften verweisen auf Österreich, wo allen Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden, ein außerbetrieblicher Ausbildungsplatz zugesichert wird. Finanziert werden soll das nach Ansicht des DGB über einen Fonds, in den alle Unternehmen einzahlen. Betriebe, die ausbilden, bekommen als Anreiz Fördergelder aus diesem Topf.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich auch die Ampel-Parteien für eine Ausbildungsgarantie ausgesprochen. Die Wirtschaft lehnt eine solche jedoch ab. Es mangele nicht an der Bereitschaft der Unternehmen auszubilden, sagte Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander. "Es mangelt schlichtweg an Bewerbern." Auch Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer erklärte, es entschieden sich nicht genügend Jugendliche für eine Berufsausbildung, obwohl das Handwerk zukunftssichere und zukunftsgestaltende Berufe biete. "Die Berufsorientierung muss dringend in allen Bundesländern auf die Gymnasien ausgeweitet werden", forderte er. Nach Ansicht von Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, muss das Ansehen der Ausbildungsberufe in der Gesellschaft gesteigert werden, vor allem mit Blick auf die Karriereperspektiven, die damit verbunden seien.


"Bewerbungen lohnen auch jetzt noch"

In der Region sind noch mehrere Tausend Ausbildungsplätze frei. Kammern fordern mehr Berufsorientierung an Schulen.

Wer in der Rhein-Neckar-Region einen Ausbildungsplatz sucht, hat auch jetzt – kurz vor Beginn des Ausbildungsjahres – noch gute Chancen. Die IHK Rhein-Neckar und die Handwerkskammer Mannheim Rhein-Neckar-Odenwald berichteten am Montag in einer gemeinsamen Pressekonferenz übereinstimmend von zahlreichen offenen Stellen. So fänden sich in der Online-Lehrstellenbörse der IHK für 2022 noch 833 offene Ausbildungsplätze, bei der Handwerkskammer seien es aktuell noch 512. Dabei dürfte die tatsächliche Zahl noch deutlich höher liegen, sagte Harald Töltl, Geschäftsführer Ausbildung bei der IHK Rhein-Neckar. Denn die Betriebe würden nicht jeden freien Platz bei der Kammer melden.

"Aus Gesprächen mit Unternehmen wissen wir, dass sich mittlerweile auch große und bekannte Firmen schwer tun, ihre Ausbildungsplätze vor allem im gewerblich-technischen Bereich zu besetzen", berichtete IHK-Präsident Manfred Schnabel. "Gebt euch einen Ruck, bewerbt euch jetzt", rief er potenziellen Kandidaten zu. Insbesondere im ländlichen Raum seien noch zahlreiche Ausbildungsplätze unbesetzt. Erfahrungsgemäß würden hier viele Stellen durch persönliche Kontakte etwa in Vereinen vermittelt. Durch die Corona-Pandemie waren solche Kontakte zuletzt aber nicht möglich.

Das Handwerk sieht aktuell beste Chancen für Nachwuchskräfte: Laut dem Präsident der Handwerkskammer Mannheim Rhein-Neckar-Odenwald, Klaus Hofmann, suchen bundesweit 12 500 Handwerksbetriebe, davon 1650 im Südwesten, in den kommenden fünf Jahren einen Nachfolger. Das bedeute selbstbestimmtes Arbeiten und sehr gute Verdienstmöglichkeiten, betonte Hofmann.

Gleichzeitig räumten Schnabel und Hofmann ein, dass viele Ausbildungsberufe nach wie vor ein Imageproblem hätten. In den Augen vieler junger Leute und deren Eltern würden sie als laut, schmutzig und körperlich anstrengend gelten. Zudem würden oft Berufstätige, die nach einem Studium am Schreibtisch sitzen, besser angesehen ist als solche, die mit ihren Händen arbeiten. Um diesen Klischees endlich ein Ende zu setzen, sei ein Bewusstseinswandel in Schule und Gesellschaft unverzichtbar, so Schnabel. Insbesondere in den Gymnasien sehe er wenig Engagement, den jungen Menschen Alternativen zum Studium aufzuzeigen. Es werde höchste Zeit, dass auch die Lehrer die verschiedenen Betriebe "von innen" kennenlerne. Für viele Schüler stehe eine Ausbildung gar nicht zur Debatte, weil sie weder von Familie noch von Freunden oder Schule thematisiert werde. "Der Schlüssel zur Lösung der Probleme liegt in den Schulen", ist Schnabel sicher. Gefragt seien mehr praxis- und anwendungsorientierter Unterricht an den Schulen. Derzeit seien die Schulen einfach zu "verkopft", fügte Hofmann hinzu. Zudem könnten "Praktika ganz wunderbar aufzeigen, was einen Beruf ausmacht. Potenziale sehen beide Kammern insbesondere bei Mädchen.

Von der Politik verlangt er ein Ende der Diskussion über eine Dienstpflicht, ein obligatorisches Jahr im Dienste der Gesellschaft nach der Schule. Den Betrieben gehe damit ein kompletter Ausbildungsjahrgang verloren.

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