Von Sören S. Sgries
Tübingen. "Zielscheibe Schiedsrichter – immer noch!?", fragte Kriminologin Thaya Vester (37) für ihre Dissertation an der Uni Tübingen. In zwei Spielzeiten, 2011/12 und 2016/17 befragte sie die Unparteiischen im Württembergischen Fußball-Verband.
Frau Vester, wie kamen Sie überhaupt dazu, Gewalt gegen Schiedsrichter zu untersuchen?
Auslöser war ein Gespräch mit meinem Professor, der beim Mittagessen mal sagte, er habe das Gefühl, dass sich die Meldungen über Gewalt im Fußball häufen. Er ist Fußballfan, ich bin Fußballfan – und dann haben wir mal geschaut, ob es zu diesem Problemfeld überhaupt schon kriminologische Forschung gibt.
Und? Gab es die?
Kaum. Die Erfassung der Quantität von solchen Vorgängen: Die sieht ziemlich mau aus. Deshalb haben wir beschlossen, selbst zu forschen. Und parallel haben auch andere das Thema aufgegriffen, beispielsweise hat der DFB ein Lagebild erstellt. Allerdings zeigt sich auch: Einzelne Verbände, die in der Vergangenheit Zahlen erhoben hatten, waren damit gar nicht so glücklich: Plötzlich standen sie nämlich auf einer "Landkarte der Gewalt" am Pranger, während diejenigen, die sich der Thematik nicht öffentlich widmeten, ihre Ruhe hatten.
In Ihrer Grundannahme fühlt man sich gerade wieder bestätigt: Irgendwie liest man doch jede Woche von Angriffen auf dem Fußballplatz.
Richtig. Wir sind gerade innerhalb der Saison an dem Zeitpunkt, wo die meisten Vorfälle passieren: Die Gewalt ist ein typisches Spätherbst-Phänomen.
Warum?
Meist ist der Ausgangspunkt ein Zweikampf, über den es Meinungsverschiedenheiten gibt. Da kann man ausrasten – oder sich die Hand schütteln und einfach weiter spielen. Da kann man sich gut vorstellen, dass es einen Unterschied macht, ob ich gefoult werde und danach voller Dreck und Matsch bin. Im trockenen Gras stecke ich das vielleicht leichter weg.
Und der Erfolgsdruck ist größer?
Das kommt hinzu. Jetzt beginnt die Phase in der Saison, in der auch Trainer entlassen werden. Schlechte Tabellenplätze kann man nicht mehr schönreden. Es gibt eine Wellenbewegung: Zum Ende der Hinrunde und zum Ende der Rückrunde steigt die Zahl der Konflikte an. Wobei gegen Ende der Saison öfter Spielmanipulation und Betrugsfälle auftauchen, also beispielsweise höherklassige Spieler auf einmal in den niedrigeren Mannschaften eingesetzt werden.
"Die Gewalt ist ein typisches Spätherbst-Phänomen"Jenseits der saisonalen Schwankungen: Geht es heute auf dem Platz brutaler zu als vor fünf Jahren?
In den Zahlen, die es gibt und die ich auch neu erhoben habe, bestätigt sich das nicht. Da ist das Gewaltaufkommen relativ konstant. Und der Blick in die Sportgerichts-Akten des Württembergischen Fußball-Verbands (wfv) zeigt: Auch vor 30 oder 40 Jahren gab es sehr schlimme Fälle – die waren aber nur lokal bekannt, weil sie nicht so weit verbreitet wurden.
Warum werden denn solche Vorfälle heute ganz anders wahrgenommen?
Wir sind deutlich sensibler geworden. Wir empören uns mehr, schauen genauer hin. Und weil Fußball so populär ist, sind auch seine Schattenseiten "populär". Fußball bringt einfach Quote. Dadurch entsteht aber ein Zerrbild, weil Spiele, bei denen nichts passiert, kein Thema sind.
Wie sehen die Schiedsrichter selbst ihre Situation?
Das ist unglaublich heterogen. Die Umfrage wurde vor Ort, auf Papier, bei den Schulungen gemacht. Deshalb habe ich auch die Schiedsrichter in der Umfrage, denen nie etwas passiert ist, die nie Probleme hatten. Es gibt sogar welche, die sagen, die Lage hat sich verbessert. An einer Online-Umfrage hätten vermutlich verstärkt die Betroffenen teilgenommen.
Und welche Großtendenz sehen Sie?
Der Großteil fühlt sich persönlich sicher. Wenn man fragt, wie sie die Lage für die Kollegen sehen, dann sehen die Werte schon schlechter aus. Da merkt man dann den Einfluss negativer Berichte.
Wer ein Spiel leitet, muss ja selbstbewusst sein, Konfliktsituationen gut meistern können. Werden da heikle Situationen auch kleingeredet?
Ich habe auch nach dem Sicherheitsgefühl von Schiedsrichtern im Alltag gefragt. Und da zeigt sich: Sie fühlen sich deutlich sicherer als der Durchschnitt der Normalbevölkerung. Aber sie stehen natürlich auch unter einer besonderen Belastung.
In den Fankurven scheint der Ton rauer geworden zu sein, auch das gesellschaftliche Klima hat sich verändert. Oder täuscht auch da die Wahrnehmung?
Es wird viel über Verrohung diskutiert. Aber ich finde das bislang nicht belegt. Beispielsweise ist die Zahl der Anzeigen wegen Beleidigung beim wfv konstant. Wobei sich da viel im Graubereich bewegt. Ist "Schiri, bist du blind?" schon eine Beleidigung? Die Schiedsrichter sagen aber auch, dass sie bei ihren Meldungen vorsortieren. Sie nehmen etwas nicht persönlich. Oder sie erwarten sowieso keine weitere Verfolgung beispielsweise von Fans, die beleidigend werden. Da droht aber eine Negativspirale: Warum sollte man Schiedsrichter nicht beschimpfen, wenn es ohnehin keine Konsequenzen gibt?
Wen erleben die Schiedsrichter als das größte Problem? Das Publikum?
Dieses Jahr stehen in der Wahrnehmung der Schiedsrichter die Eltern bei Junioren-Spielen an der Spitze der Statistik. Aber auch Trainer tauchen auf. Die Spieler selber sind für die Schiedsrichter weniger das Problem. Bei der tatsächlichen Gewalt – das stammt aus anderen Auswertungen – sehen wir ein besonderes Problem bei Einwechselspielern. Die kommen "geladen" vom Spielfeldrand und sehen dann schnell Gelb, Gelb-Rot – und rasten dann aus. Da gibt es Frust, dass sie auf der Bank sitzen, oder Übermotivation, sie wollen das Spiel herumreißen. Da schraubt sich die Eskalationsspirale schnell hoch.
Treten Spieler, Eltern, Fans mit Migrationshintergrund besonders aggressiv auf?
Bei der Auswertung von Sportgerichtsurteilen fällt zumindest auf, dass Spieler mit Migrationshintergrund überproportional häufig als Täter auftauchen. Das Gleiche gilt aber auch für die Opferseite. Das zeigt, dass hier durchaus eine große Konfliktlinie existiert.
Was erwarten die Schiedsrichter vom Verband, damit ihre Arbeitsbedingungen dennoch besser werden?
Einige sagen, der Verband müsse für mehr Sicherheit sorgen. Eine deutliche Mehrheit, 70 Prozent, wünscht sich mehr Angebote für Schulungen, um den Umgang mit Konfliktsituationen zu lernen.
Viel ist die Rede von Nachwuchsmangel. Hängt das miteinander zusammen?
Es spielt mit rein. Aber es ist nicht der Hauptfaktor. Es gibt in der Gesamtgesellschaft die Abkehr von einem lebenslangen Engagement bei einem Verein. Jüngere Leute engagieren sich lieber in Projekten. Wenn eine neue Lebensphase kommt, dann endet das alte Engagement. Da spielt dann natürlich die Erfahrung mit rein: Wenn jemand den Schiedsrichter-Job als unangenehm empfindet, den Ton auf dem Platz, dann fängt er damit beispielsweise nach dem Studium nicht mehr an, sondern sucht sich lieber ein angenehmeres Hobby.
Nehmen die Gewalterfahrungen mit wachsender Schiedsrichter-Erfahrung ab?
Die Schiedsrichter, die durch ihre Erfahrung eigene Strategien zum Umgang mit Konfliktsituationen entwickelt haben, die fühlen sich sicherer. Das heißt aber nicht automatisch, dass sie nicht angegriffen werden. Denn auf der anderen Seite erhöht sich automatisch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiedsrichter angegriffen wird, je länger bzw. häufiger er auf dem Fußballplatz steht.