Heidelberg. (sös) Seit fast einem Jahr sind die Schulen gezwungen, immer wieder in Phasen des "Fernunterrichts" zu wechseln. In der Praxis heißt das oft: Der Lehrer sitzt vor der Webcam, die Schüler sind per Videokonferenz zugeschaltet. Muss das so sein?
Nein, sagt Bildungsexperte Marco Kalz in der aktuellen Folge des RNZ-Podcasts zur Landtagswahl. Das, was man derzeit an vielen Schulen erlebe, sei "immer noch eine Notfallsituation und ein Verwalten von Mangel". Vieles, was derzeit geschehe, sieht der Professor an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg, äußerst kritisch. Kalz leitet an der PH unter anderem den Masterstudiengang "E-Learning und Medienbildung". "Arbeitsblätter herumschicken, ist kein Unterricht. Unterricht ist ein viel komplexeres Szenario", so Kalz im Podcast.
Ein Kreuz, zwei Stimmen - Folge 6: Wie geht’s weiter an den Schulen? – Mit Bildungsforscher Marco Kalz
Moderation: Sören Sgries und Alexander Rechner / Schnitt und Produktion: Reinhard Lask
Marco Kalz lehrt an der PH in Heidelberg. Foto: privatDen Lehrerinnen und Lehrern will er aber keinen Vorwurf machen – schließlich habe sich niemand auf die derzeitige Situation vorbereiten können. "Das digitale Lehren und Lernen hatte an den Schulen hauptsächlich eine Art Erweiterungscharakter vorher und war irgendwie ,nice to have’", war also eher ein Bonus. "Durch die Pandemie ist das natürlich jetzt absolut ins Zentrum gekommen." Tatsächlich bewundere er die Agilität vieler Lehrkräfte und Schulleitungen, die in kürzester Zeit Konzepte entwickelt hätten.
In der Lehrerausbildung seien die digitalen Medien lange Zeit nicht fest als Pflichtmodul verankert gewesen. Und auch das Fortbildungsangebot sei, auch noch im vergangenen Sommer, sehr dünn gewesen. Was Kalz stattdessen beobachtete: Informelle Netzwerke wie das "Twitterlehrerzimmer" seien während im Frühjahr regelrecht aufgeblüht, hätten einen "rapiden Zuwachs" erfahren. In dem Online-Netzwerk gebe es "einen Fundus an Tipps und Tricks".
Was der PH-Professor empfiehlt: Digitalen Unterricht müsse man in vielen Bereichen komplett anders denken. Beispielsweise sei fraglich, ob die 45-minütige Unterrichtsstunde, die 32 Schüler parallel verfolgen, wirklich lernförderlich sei. Stattdessen könnte man eher in kleinen Gruppen arbeiten lassen. Wobei es immer zu bedenken gebe: Trotzdem bleibe die Kommunikation eine ganze andere. Man müsse genau überlegen, wie auch digital ein "Lernklima" geschaffen werden könne.
Was Kalz fürchtet: Dass viele Lehrer vom "Notfalllernen" abgeschreckt seien – und entsprechende Konzepte künftig mieden. Ein Fehler, glaubt er. Nicht nur, weil er erwartet, dass noch eine ganze Weile zumindest bestimmte Gruppen auf Distanz mitbeschult werden müssen.