Palmer: „Wir haben beim Schutz der Alten viel richtig gemacht.“ Foto: lsw
Von Andreas Herholz, RNZ Berlin
Tübingen/Berlin. Bei den Grünen ist Boris Palmer (48) für abweichende, gerne auch provokante Aussagen bekannt. Der Oberbürgermeister von Tübingen kritisiert auch den allgemeinen Kurs in der Corona-Pandemie.
Herr Palmer, Sie haben eine Tübingen eine eigene Strategie im Kampf gegen die Corona-Pandemie entwickelt. Das Tübinger Modell gilt als Erfolg. Wie haben Sie das gemacht?
Wir haben uns konsequent auf das Risiko konzentriert. Ziel war es, die Älteren besonders zu schützen. Für sie ist die Gefahr am größten. Die überwiegende Zahl der schweren Erkrankungen und Todesfälle betrifft Menschen über 65 Jahre. Sie vor allem brauchen intensiven Schutz. Dazu gehören separate Seniorentaxis, ein Zeitfenster für Senioren zum Einkaufen, kostenlose FFP2-Masken, die an alle geschickt wurden. Wir haben ein sehr intensives Testregime und Testangebot eingeführt.
Das bedeutet hohe Investitionen.
Wir haben etwa eine halbe Million Euro in diese Konzepte investiert. Auf den Intensivstationen in Tübingen gibt es aktuell zwei Drittel weniger Corona-Patienten als zur Hochzeit im April. Der Anteil der über 65-Jährigen an den Infizierten liegt bei etwa zehn Prozent. (Bundesweit sind es laut RKI aktuell fast 20 Prozent, Anm. d. Red.) Das deutet darauf hin, dass wir unser Ziel erreicht haben. Die Älteren stecken sich weniger bei den Jüngeren an. Viele Über-75-Jährige haben bisher im Heim gelebt. Wir hatten keine Ausbrüche in den Heimen. Das liegt daran, dass wir auf Kosten der Stadt schon im September regelmäßig das Personal getestet haben. Ab Oktober dann wurden auch Besucher und Bewohner getestet. Das erhöht die Sicherheit ganz erheblich.
Führt an einem harten bundesweiten Lockdown noch ein Weg vorbei, oder kann man ihn nicht mehr vermeiden?
Der harte Lockdown lässt sich nicht mehr vermeiden. Andernfalls kommen wir an die Grenzen des Gesundheitssystems. Man hätte dies alles vermeiden können, wenn man frühzeitig auf den Schutz der Risikogruppen gesetzt und vor allem die Bedenken beim Datenschutz über Bord geworfen hätte. Es ist skandalös, dass zwar unsere Handys wissen, wo wir uns infizieren, aber niemand darauf zugreifen kann. Die Corona-App schützt unsere Daten, aber sie schützt uns nicht vor dem Virus. Das war vor einem halben Jahr eine gravierende Fehlentscheidung. Ich gebe gerne meine Daten, wenn ich dafür meine Verwandten an Weihnachten sehen kann, die Geschäfte geöffnet sind und ich ins Restaurant gehen kann.
Die breite Testoffensive lässt bundesweit immer noch auf sich warten.
Es wird immer noch gesagt, dass man Menschen ohne Symptome nicht testen soll. Mittlerweile nennen das sogar die Betreiber von Altenheimen als Argument, warum sie nicht testen. Wir sehen es anders. Gerade die Symptomlosen sind die Überträger, die aber nicht wissen, dass sie die Pandemie verbreiten. Deshalb muss man mehr testen, gerade in kritischen Situationen. Das geht. Schnelltests gibt es genug. Wir testen bei uns auf dem Marktplatz. So kann man unmittelbar vor dem Besuch bei den betagten Verwandten sicherstellen, dass man ihnen nicht den Tod bringt. Erfreulicherweise will das Land Baden-Württemberg dieses System übernehmen.
Sind Bund und Länder mit ihrem Krisenmanagement gescheitert?
Dieser Teil-Lockdown war ein Fehler. Ich habe nie verstanden, was das sollte. Man hat Bereiche wie Kultur, Gastronomie und Hotellerie geschlossen, die keine Treiber der Pandemie sind. Die Hoffnung, dass so die Infektionszahlen sinken, war abstrus. Jetzt muss eben der harte Lockdown kommen.