Kretschmann wundert sich über Altersfrage in der Politik
Nach Kuhn-Verzicht auf zweite Amtszeit - Ministerpräsident (71) gefällt Begründung nicht

Von Roland Muschel, RNZ Stuttgart
Stuttgart. Als der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn am Dienstag überraschend seinen Verzicht auf die Kandidatur für eine zweite Amtszeit verkündete, begründete der Grünen-Politiker die Entscheidung mit persönlichen Motiven. Explizit erwähnte Kuhn sein Alter: Bei der OB-Wahl am 8. November 2020 werde er 65 Jahre alt sein, am Ende der achtjährigen Amtszeit wäre er 73. Da stelle sich die Frage, ob man die eigenen Ansprüche ans Amt über die volle Zeit erfüllen könne.
Ausgerechnet einem langjährigen Weggefährten konnte die Begründung nicht gefallen. Er persönlich finde, "64 ist noch kein Alter", teilte Ministerpräsident Winfried Kretschmann, wie Kuhn Gründungsmitglied der Südwest-Grünen, ungefragt per Pressemitteilung mit. Kretschmann wird 2021, dem Jahr der Landtagswahl, 73 Jahre alt, sein Verkehrsminister Winfried Hermann 68, Umweltminister Franz Untersteller 63. Am Ende der fünfjährigen Legislaturperiode wäre Kretschmann 78 – alle seine derzeitigen grünen Fachminister hätten die 60 überschritten.

Kuhn, sagt der Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling, habe mit seiner Begründung unbeabsichtigt ein Signal gegeben, das für den Ministerpräsidenten "nicht gut" sei. "Sein Alter ist für Winfried Kretschmann ein Problem, wenn auch kein gravierendes. Im Augenblick ist es das einzige Argument, was bei der Landtagswahl 2021 gegen ihn sprechen könnte. Solange die anderen Parteien aber kein besseres Argument haben, sieht es schlecht für sie aus."
Die politische Konkurrenz testete die Wirksamkeit dennoch gleich aus. "Ich muss schon sagen: überragende grüne Strategie", spottete der SPD-Landtagsabgeordnete und frühere Finanz-Staatssekretär Peter Hofelich, selbst 67, via Facebook. "Kuhn, 64, im zweitwichtigsten Amt des Landes, hört auf wegen Alter. Kretsch-mann, 71, im wichtigsten Amt des Landes, macht weiter, trotz Alter." In den Kommentaren unter Hofelich Posts hielten sich Zustimmung und Kritik die Waage.
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Welche Rolle das Lebensalter eines Politikers für die Entscheidung der Wähler tatsächlich spielt, ist ein Feld für Spekulationen – und je nach Fall und Umständen unterschiedlich gelagert. Jugend gilt vielen als Ausweis für Tatkraft und die Bereitschaft zur Veränderung. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ist erst 33, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 42. Sie verkörpern den Wunsch nach einem Politikwechsel. Doch diese Sehnsucht könne auch fortgeschrittene Semester abbilden, etwa US-Präsident Donald Trump, 73. Aussichtsreiche mögliche Herausforderer von Trump wie Joe Biden (77) sind noch älter.
Zuletzt spielte die Altersfrage im US-Wahlkampf 1984 eine große Rolle, als der damals 73-jährige Präsident Ronald Reagan für eine zweite Amtszeit kandidierte. Mit einer humorvollen Einlassung im TV-Duell gegen den 60-jährigen Demokraten Walter Mondale münzte Reagan seine vermeintliche Schwäche in ein Argument für sich um: "Ich werde Altersfragen in dieser Kampagne nicht thematisieren. Ich werde die Jugend und Unerfahrenheit meines Opponenten nicht politisch ausschlachten." Alter als Ausweis von Erfahrung und Gelassenheit – spätestens mit dieser Botschaft war Reagan in einer unsicheren Phase des Kalten Krieges die Wiederwahl sicher.
In Baden-Württemberg spielte die Altersfrage 2001 eine große Rolle, als die 36-jährige SPD-Politikerin Ute Vogt den 61-jährigen Amtsinhaber Erwin Teufel herausforderte. "Dass das Alter zum Thema wurde, hat Erwin Teufel geschlaucht", blickt Wehling, selbst 82, zurück. Nach zehn Jahren im Amt galt der bedächtige Teufel selbst den eigenen Abgeordneten, allen voran dem damaligen, 47 Jahre alten Fraktionschef Günther Oettinger, als altbacken.
Als sich Teufel das Grau aus den Haaren tönen wollte, das Ergebnis aber ziemlich rot ausfiel, war der Spott groß. Geschadet hat die Altersfrage dem Amtsinhaber letztlich nicht. Die Wähler goutierten zwar Vogts erfrischenden Auftritt, noch stärker aber Teufels Erfahrung. Mit 44,8 Prozent erzielte die CDU ihr bestes Ergebnis unter dem dreimaligen Spitzenkandidaten Teufel, die SPD mit 33,3 Prozent ihr bestes seit 1976. Weder CDU noch SPD haben diese Werte seither wieder erreicht.
Der Altersunterschied zwischen dem 71-jährigen Kretschmann und seiner 55-jährigen CDU-Herausfordererin Susanne Eisenmann ist ebenfalls beträchtlich. Direkt zum Thema macht Eisenmann das schon mit Rücksicht auf die Wähler- und Mitgliederstruktur nicht. Das CDU-Mitglied ist im Schnitt um die 60 Jahre alt, die Wählergruppe 60 plus eine sehr gewichtige bei jedem Urnengang. Aber Eisenmann fordert gerne mehr Tatkraft und Elan. Bei der Bekanntgabe seiner erneuten Kandidatur im September 2019 versuchte Kretschmann denn auch vorzubauen und ging bewusst in die Offensive: Er sei, verkündete der Ministerpräsident, "fit und voller Tatendrang".



