Kretschmann und Hermann

Zwei Winfrieds, zwei ungleiche grüne Weltsichten

In der Vergangenheit gab es immer mal wieder Reibungspunkte zwischen beiden. Gleichzeitig sind sie die letzten aus der Regierungsmannschaft von 2011.

24.12.2022 UPDATE: 25.12.2022 06:00 Uhr 3 Minuten, 29 Sekunden
„Ich habe sein Ohr und er hat mein Ohr“: Seit 2011 sitzen Verkehrsminister Hermann (l.) und Ministerpräsident Kretschmann (r.) gemeinsam am Kabinettstisch. Trotz inhaltlicher Differenzen verstehe man sich gut – zumindest behaupten sie das. Foto: Bernd Weißbrod

Von Theo Westermann, RNZ Stuttgart

Stuttgart. Im Frühsommer der Zeitenwende: Am 9. Mai 2022 steht Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Stetten am kalten Markt in der Kaserne der Bundeswehr, hinter ihm eine Panzerhaubitze, neben ihm ein Raketenwerfer. Der brutale Krieg Putins gegen die Ukraine habe dazu geführt, dass "wir in einer neuen Zeit aufgewacht sind", sagt Kretschmann zu den Soldaten. Er verkündet am größten Standort der Bundeswehr im Südwesten sein Credo: "Wir müssen nach außen wieder wehrfähig werden." Die Bundeswehr gehöre zum "Rückgrat der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge". Und mit Blick auf die Panzerhaubitze sagt er klar: "Ich halte solche Waffenlieferungen an die Ukraine für unabdingbar."

Es ist kein Termin, zu dem man den einzigen grünen Ministerpräsidenten in Deutschland drängen musste. Auch vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs stand Kretschmann ("Ich bin kein Pazifist") zur Bundeswehr. Doch an diesem Tag wird in Stuttgart zeitgleich eine konträre Botschaft in die Welt gesetzt: Sein Parteifreund Verkehrsminister Winfried Hermann lehnt die Entscheidung der Ampel-Bundesregierung für die Lieferung schwerer Waffen ab. Er sei der Meinung, dass "mit mehr Waffen mehr Gewalt und Gegengewalt entstehen kann", sagte Hermann. Er räumt ein, es sei eine "Dilemmasituation". Doch seine Meinung sei: "Im Zweifel vorsichtig, eher nein." Zwei Tage vorher läuft ein Porträt Hermanns in der "taz" mit dem Kernsatz: "Ich gehe als Pazifist ins Grab".

Man kann das als Ausdruck von Meinungsvielfalt in der grünen Partei sehen – oder als unfreundlichen Akt gegen den eigenen Ministerpräsidenten. In der Vergangenheit hat es immer mal wieder Reibungspunkte zwischen dem eher wirtschaftsfreundlichen Kretschmann und seinem eher autokritischen Verkehrsminister gegeben.

Im Staatsministerium ist man im Mai 2022 deutlich verstimmt angesichts dieser Aktion. Und es gibt Beobachter, die seither das nie ganz einfache Verhältnis zwischen den beiden grünen Alpha-Tieren beschädigt sehen und munkeln, dass der Minister nicht mehr das Ohr des Ministerpräsidenten habe. Wer sich bei den Grünen umhört, hört unterschiedliches. "Das Gerücht höre ich auch immer wieder", sagt ein führender Vertreter. Ein grünes Regierungsmitglied verweist darauf, dass beide Profis seien und mit dem Dissens umgehen könnten.

Auch interessant
Baden-Württemberg: Grünen-Rebell "Winne" Hermann wird 70
Auspuff-Ranking: Kein Ministerpräsident fährt sauberer als Kretschmann
Schwere Waffen an die Ukraine: "Das ist keine Kriegstreiberei, sondern Courage"
Heilbronn: Kretschmann besucht Geflüchtete und Helfer

Hermann selbst sagt dazu: "Ich habe sein Ohr und er hat mein Ohr. Zu einem von Respekt getragenen Umgang gehört für mich auch das offene Wort. Natürlich habe ich wie alle Fachministerinnen und -minister weiterhin einen guten Zugang zum Ministerpräsidenten. Und es ist immer spürbar, dass ihn Mobilitäts- und Verkehrspolitik ‚bewegt‘". Was den Dissens in der Frage von Krieg oder Frieden angeht, betont Hermann: "Über meine Interviews zum Ukrainekrieg haben wir gesprochen. Der Ministerpräsident ist da in vielen Punkten deutlich anderer Meinung, respektiert aber meine pazifistische Grundhaltung." Und weiter: "Wir kennen uns schon sehr lange und wissen gut, dass wir viele gemeinsame Anliegen und Sichtweisen haben. Er weiß auch, dass meine ,linke’ grüne Position bisweilen eine andere ist als seine."

Der inzwischen 70-jährige Hermann ist neben dem 74-jährigen Kretschmann das dienstälteste Regierungsmitglied. Er ist nach dem Abgang von Wissenschaftsministerin Theresia Bauer der letzte verbliebene Weggefährte von 2011, als die Grünen die einst übermächtige CDU ablösten. Ohne den einen wäre der andere nicht vorstellbar: Wenn Kretschmann der Magnet der Grünen bis in konservativ-bürgerliche Wählerschichten ist, dann ist Hermann eine Art Säulenheiliger auf der linken Seite – unersetzlich im fein austarierten Gefüge der grünen Regierungspartei. Genauso kam er auch 2011 ins Landeskabinett, der Ruf des streitbaren Parteilinken und Verkehrspolitikers aus dem Bundestag eilte ihm voraus. Für die 2011 in die Opposition verbannte CDU war er sozusagen der Leibhaftige, Höchststrafe sogar, als die CDU 2016 als Juniorpartner der Grünen einen Verkehrsminister Hermann akzeptieren musste.

Doch die Uhr hat sich weitergedreht. Hermann ist schon länger nicht mehr der "Bahnschreck", der "Straßenbauverhinderer", der "Feind der Autokonzerne", der er immer mal genannt wurde. Seine Unduldsamkeit ist der Erkenntnis gewichen, dass "schnell gar nichts mehr geht", was den Ausbau des ÖPNV angeht. Inzwischen ist er eher Experte für das Bohren dicker Bretter. Selbst Kritiker müssen einräumen, dass der ÖPNV unter Hermann Meilensteine zurückgelegt hat. Auch beim christdemokratischen Regierungspartner gibt es inzwischen viel Lob für den Verkehrsminister, dort nennen ihn führende Vertreter einen "Vollprofi" und absolut verlässlich.

Dass er die Verkehrswende sprichwörtlich lebt, wird greifbar etwa bei einer Lesung des Ministers aus seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch "Und alles bleibt anders: Meine kleine Geschichte der Mobilität". In der "Stiftung Geißstraße 7" in der Stuttgarter Altstadt ist der Minister einfach "Winne" und unter alten Freunden. Launig-mild liest er über seine Kindheit in der Nähe des Rottenburger Bahnhofs, aus fast vergessenen Zeiten, als jeder größere Ort noch einen Güterbahnhof hatte und die Bahn ein dominantes Verkehrsmittel für Fracht wie Mensch war, aber angesichts politischer Richtungsentscheidungen pro Straße praktisch in die Tonne getreten wurde. Vor lauter Fragen und Debatten kommt er fast nicht zur Lektüre. Die Bahn will er wieder stärken, aber nicht nur ihren Nutzen betonen, sondern auch auf "Emotionen" setzen.

Kretschmanns Hauptthema dagegen ist der Ausbau des ÖPNV erkennbar nicht – das räumen Grüne im internen Gespräch ein. Das habe nicht Kretschmanns oberste Priorität, sagen langjährige Weggefährten, es sei eben nicht sein "Erfahrungshintergrund". Dass es im künftigen Doppelhaushalt die benötigten 120 Millionen Euro für den Start der Mobilitätsgarantie, ein Kern der Hermannschen Verkehrswende, eben nicht gibt, sondern das Thema – zunächst – auf 2025 verschoben wurde, nimmt der Minister nach außen sportlich. Ein Schlag aber ist es schon.

Während Kretschmann selbst sein politisches Ablaufdatum 2026 nennt, hält sich Hermann noch bedeckt: "Über meinen Ruhestand denke ich derzeit nicht nach."

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.