Ein Viertel der Kinder drohen abgehängt zu werden
Doch trotz zuletzt beunruhigender Studienergebnisse ist Stanat überzeugt: Die richtigen Weichen im Land seien gestellt. Jetzt gelte es, "dranzubleiben".



Direktorin des Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
Von Axel Habermehl, RNZ Stuttgart
Stuttgart. Petra Stanat (58) leitet als Direktorin und wissenschaftlicher Vorstand das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-Universität. Kommenden Montag ist die Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin bei einem Kabinettsabend der Landesregierung von Baden-Württemberg zu Gast.
Gemeinsam mit einem anderen Bildungsforscher soll sie das kontinuierliche Absinken der Schülerleistungen im Land erklären – und Vorschläge zur Verbesserung machen. Ihre Analyse: Das Land hat unter Ex-Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) schon die richtigen Schritte eingeleitet.
Frau Stanat, die IQB-Bildungstrends sind in Baden-Württemberg eingeschlagen wie eine Bombe. Haben die Befunde Sie überrascht oder hatten Sie das erwartet?
Ich war nicht überrascht, denn ungünstige Entwicklungen sehen wir zwischen 2016 und 2021 in fast allen Bundesländern. In Baden-Württemberg sind die Ergebnisse aber in Kombination mit den Trends 2011 bis 2016 besonders problematisch. 2016 hatte mich die deutlich negative Entwicklung wirklich überrascht.
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20 bis 30 Prozent der Viertklässler erreichen Mindeststandards nicht, viele weitere schaffen sie gerade so. Was bedeutet das für die Kinder und für unsere Gesellschaft insgesamt?
Diese Kinder drohen abgehängt zu werden. Bei einer Aufgabe in unseren Tests im Bereich Lesen zum Beispiel sollten die Kinder in einem Fahrplan ablesen, wann der nächste Bus kommt, wenn man einen bestimmten Bus verpasst hat. 20 Prozent können solche Anforderungen nicht bewältigen, das ist schon gravierend. Diese Kinder muss man in der Sekundarstufe sehr gezielt fördern, damit sie das aufholen. Wenn dies nicht gelingt, werden sie beim Übergang in eine Ausbildung oder in den Arbeitsmarkt große Probleme haben.
Bei der ersten IQB-Studie 2011 lag Baden-Württemberg in der Spitzengruppe. Inzwischen steht das Land im Mittelfeld, mit Tendenz nach unten. Was läuft hier eigentlich schief?
Unsere Daten liefern Beschreibungswissen, aber nur begrenzt Erklärungen. Eine plausible Hypothese ist, dass die Heterogenität der Schülerschaft in Baden-Württemberg seit 2011 besonders stark gestiegen ist. Der Anteil der Viertklässler mit Zuwanderungshintergrund liegt inzwischen bei fast 50 Prozent. Das ist eine sehr hohe Quote, da liegt Baden-Württemberg auf dem Niveau von Berlin. Die Frage ist: Hat das Land ausreichend auf diese Veränderung reagiert?
Hat es?
Ich denke, Baden-Württemberg ist inzwischen auf einem guten Weg. 2017 wurde ein Prozess gestartet, der das Potenzial hat, Qualitätsentwicklung und -sicherung systematisch zu verbessern. Zwei gut konzipierte Institute wurden gegründet, es werden verstärkt Daten genutzt, um problematische Entwicklungen früh zu erkennen und bei Maßnahmen orientiert man sich vermehrt an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es wird allerdings dauern, bis Ergebnisse dieser Strategie sichtbar werden.
2016 sagten Sie, Stabilität im Schulsystem sei ein entscheidender Faktor. Der von Ihnen genannte Prozess hat aber viel Unruhe verursacht.
Manchmal ist es nötig, grundsätzlich zu überlegen: Was machen wir eigentlich? Verfolgen wir eine geeignete Strategie? Baden-Württemberg hat beschlossen, einiges grundsätzlich zu ändern. Wenn man einen solchen Weg eingeschlagen hat, muss man dann aber beherzt dranbleiben.
Müssen sich Schulen ändern, um in der Einwanderungsgesellschaft ihren Zweck zu erfüllen?
Ja, die Schule muss sich verändern, aber das muss schon im Elementarbereich beginnen, in den Kitas. Man muss früh, gezielt und durchgängig sprachliche Kompetenzen fördern. Das ist ein Schlüssel. Wer die Unterrichtssprache nicht ausreichend beherrscht, hat in allen Fächern Probleme. Sprachförderung ist anspruchsvoll. Mit ein paar Zusatzstunden ist es nicht getan.
Das fordern viele Bildungsforscher schon lange. Baden-Württemberg hat Ende September 2022 ein entsprechendes Programm gestartet: "Starke Basis". Sind andere Bundesländer auch so spät dran?
Die Förderung von Basiskompetenzen ist in ganz Deutschland ein Problem. Mit Abstrichen vielleicht in Bayern und Sachsen, aber sonst überall und in Berlin oder Bremen ganz besonders. In der Entwicklung über die Zeit sticht Hamburg heraus: Auch Hamburg hat eine sehr heterogene Schülerschaft, aber schon Ende der 90er Jahre mit datengestützter Qualitätsentwicklung sowie systematischer und früher Sprachförderung begonnen. Langsam sieht man Erfolge.
Im Ländervergleich liegen Bayern und Sachsen an der Spitze. Was machen die besser?
Ich denke, Stabilität spielt hier eine Rolle. Diese Länder haben ihre jeweilige Strategie und setzen sie weitgehend unbeirrt um. Ihre Strategien sind sicherlich andere als in Hamburg, aber die Herausforderungen unterscheiden sich ja auch erheblich. In Sachsen zum Beispiel haben nur zwölf Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund, in Baden-Württemberg sind es fast 50 Prozent. Schon das allein ist eine ganz andere Ausgangslage. In Stuttgart sollte man sicher eher nach Hamburg schauen als nach Dresden.
Viele Kultusminister haben die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen bei ihrer Interpretation der IQB-Ergebnisse in den Vordergrund gestellt. Gibt Ihre Studie das her?
Wir können nicht klar sagen: Daran lag es! Aber die Ergebnismuster weisen stark darauf hin, dass die pandemiebedingten Einschränkungen eine Rolle gespielt haben: So zeigen sich in fast allen Ländern negative Entwicklungen, auch in Bayern und Sachsen, wo die Ergebnisse sonst immer stabil waren. Und es sind alle Kompetenzbereiche betroffen. Außerdem haben auch internationale Studien negative Folgen der Schulschließungen nachgewiesen – warum sollten wir davon verschont geblieben sein? Aber Corona erklärt wahrscheinlich nicht alles. Die Ergebnisse dürften auch eine Fortsetzung der negativen Trends sein, die schon 2016 oder sogar 2011 eingesetzt haben.
Am Montag referieren Sie im Kabinett zu dem Thema. Irgendeine Idee, wie Sie den Ministern Hoffnung machen können?
Wie gesagt: Ich glaube, dass Baden-Württemberg einen guten Weg eingeschlagen hat. Die Strategie, Schulqualität stärker daten- und evidenzbasiert zu entwickeln, überzeugt mich. Und ich komme immer wieder gern ins Ländle, weil ich finde, dass die Diskussionen sehr konstruktiv verlaufen. Man neigt hier weniger dazu als in manchen anderen Bundesländern, die Schuldfrage zu diskutieren oder Ergebnisse in Frage zu stellen, sondern fragt, was man besser machen kann. Das ist doch eine sehr gute Grundlage.



