Andrea Nahles in Mannheim

"Live bist du viel sympathischer"

Andrea Nahles überzeugte ihr Publikum bei Mannheimer "Mittagspause" - SPD-Chefin warb für "Grundsanierung" der Sozialsysteme

15.11.2018 UPDATE: 16.11.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 3 Sekunden

"Jeder Sozi auf der Welt werkelt vor sich hin": SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles (l., mit SPD-Landesvize Lars Castellucci) fordert europäische Geschlossenheit und große Antworten, um den zentralen Herausforderungen zu begegnen. Foto: Alfred Gerold

Von Sören S. Sgries

Mannheim. Ein Wohlfühltermin? Als Sozialdemokrat? Als SPD-Chefin gar? So wenig es zu erwarten war: Für Andrea Nahles muss sich diese politische "Mittagspause" am Donnerstag in Mannheim genau so angefühlt haben. Als netter Zwischenstopp, um Kraft zu tanken. Um Optimismus mitzunehmen. Am Ende, nach einer lebhaften Stunde, kann die 48-Jährige sogar herzlich lachend in den Dienstwagen steigen - die Frau, der nicht wenige nach den desaströsen Wahlschlappen in Bayern und Hessen schon das Karriereende wünschten.

Dabei kommen die rund 80 Interessierten, die sich in der "Bar Basso" nahe des Wasserturms eingefunden haben, keineswegs als Fans der Berliner Fraktionschefin. Das wird in den Wortmeldungen deutlich. "Live bist du viel sympathischer als im Fernsehen": So klingt das eher vergiftete Lob eines Mann, der sich als "Jobcenter-Praktiker" vorstellt. "Sie kommt besser rüber als in der Presse", pflichtet hinterher auch eine Studentengruppe bei.

Offenbar hatte der Auftritt in der szenigen Eckkneipe, mit Rennrad an der Wand und Fahrradfelgen als Lampenschirmen, überzeugt. Selbst Konstanze Wegner, ehemalige Mannheimer Bundestagsabgeordnete, schont die Parteichefin. Viel Vertrauen habe sie in die oberste Führungsschicht verloren, schimpft die 80-Jährige. "Ich habe die Schulze und Scholze ziemlich satt." Aber: "Andrea, ich nehme dich ausdrücklich aus." Es scheint fast, als beherzigten die Genossen doch, was ihnen Lars Castellucci, SPD-Landesvize mit Ambitionen auf Höheres, nicht ganz uneigennützig mit auf den Weg gibt: "Wenn jemand gewählt ist, wie die Andrea, dann hat sie unser aller Unterstützung verdient."

Inhaltlich schlägt Nahles, die frühere Arbeitsministerin, überraschend zunächst mit der Außenpolitik auf. "Jeder Sozi auf der Welt werkelt vor sich hin", kritisiert sie. Dabei sei es dringend notwendig, neue Allianzen zu schmieden. "Hintenrum, im Gleichschritt, zerstören die Rechten und die Rechtsradikalen unsere Weltordnung." Das britische Brexit-Votum sei das "erste schwerwiegende Warnsignal" gewesen. Mehr Europa müsse die Antwort sein.

Heftig hadert die SPD-Chefin mit den Internetkonzernen. "Glaubt ihr, wir kriegen im digitalen Kapitalismus etwas geschenkt?", fragt sie. Aus digitalem Kapitalismus müsse eine digitale soziale Marktwirtschaft werden - und dafür müssten Sozialdemokraten kämpfen. Wer sonst? Schließlich seien sie auch im Frühkapitalismus vorangegangen.

Große Reformen statt kleiner Reparaturen mahnt sie in der Innenpolitik an. Sie habe dieses Jahr in ihrem Haus einen neuen Teppich verlegt, sich neue Farbe an den Wänden gegönnt, erlaubt sie einen Einblick in Privates. So etwas könne man eine Weile lang machen. "Aber irgendwann ist wieder eine Grundsanierung fällig."

Die drei konkreten Forderungen: "Rentenversicherung für alle", also auch für Beamte und Selbstständige. Eine "Bürgerversicherung", um im Gesundheitswesen die Zwei-Klassen-Medizin zu beenden. Und eine "neue Grundsicherung", die die bisherige Arbeitslosenversicherung auf neue Beine stelle. "Aus der Perspektive der Menschen, die Hilfe brauchen - und nicht aus der Perspektive derjenigen, die sie eventuell missbrauchen", so Nahles. Zentrales Ziel müsse es sein, Kinder aus der "Armutsfalle" herauszuholen. Sanktionen, macht sie deutlich, dürfe es schon geben. Allerdings "nicht so kleinlich". Die Menschen fühlten sich derzeit "schikaniert".

15 Minuten redet Nahles, dann gibt es eine ausführliche Fragerunde - und schließlich, kurz vor der Weiterfahrt, letzte Jubel-Fotos mit dem Parteinachwuchs. Viele strahlende Gesichter. Nur eine zieht hinterher schimpfend von dannen: "Es geht immer nur um die jungen Menschen", klagt eine ältere Dame, die nicht mehr zu Wort kommt. "Was ist mit uns, die wir ein Leben lang gearbeitet haben?"