Bernhard Vogel (l.) überreichte Cem Özdemir den Preis - Norbert Lammert (r.) hielt die Laudatio. Foto: Rothe
Von Daniel Bräuer
Heidelberg. Immer war er der erste: Der erste im Bundestag mit türkischen Wurzeln. Der erste Ordensritter wider den tierischen Ernst mit Migrationshintergrund. Bierbotschafter. Brotbotschafter. Und nun: der erste Migrantensohn, der den Dolf-Sternberger-Preis für öffentliche Rede erhält. Ein Grüner noch dazu.
Ohne Frau Mogg, sagt Cem Özdemir, wäre das alles nicht möglich gewesen. Die Gemeinschaftskundelehrerin damals auf der Realschule in Urach, die den Sohn türkischer Gastarbeiter für Politik begeisterte. Ihn, der bis zu vierten Klasse eine 5 in Deutsch hatte, bei dem es zu Hause keine Zeitung gab, nie die Tagesschau lief. "Ich hatte das große Glück, immer wieder auf Lehrer zu treffen, die mich ermuntert und ermutigt haben", sagt Özdemir. Mit dem Effekt, dass er sich mit 16 einbürgern ließ - um in Deutschland, seinem Geburtsland, seiner Heimat, wählen zu dürfen. Wie ein Hans oder eine Maria.
Erst später, erzählt Özdemir bei der Preisverleihung in der Alten Aula der Uni Heidelberg, sei er im Werk von Dolf Sternberger auf den Begriff des Verfassungspatriotismus gestoßen - und fand sich darin wieder. "Das Grundgesetz sieht Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten und kategorisiert nicht nach Aussehen oder Herkunft", betont er. Man könne streiten, ob nun Frau Mogg oder der Neubegründer der Politikwissenschaft in Heidelberg die Grundlage für seine politische Karriere gelegt habe.
Die war jedenfalls steil, wenn auch von Verwerfungen begleitet: als "anatolischer Schwabe" im Bundestag, im Europaparlament, zehn Jahre lang an der Spitze der Grünen - zuletzt mit klarer Ambition auf das Amt als Außenminister einer Jamaika-Koalition.
Die Jury der Sternberger-Gesellschaft würdigt Özdemirs Neigung zu klaren Aussagen als Beitrag zur Debattenkultur, so Bernhard Vogel, Präsident der Sternberger-Gesellschaft. Als Laudator hebt Norbert Lammert hervor, wie Özdemir im Februar 2018 im Bundestag einen AfD-Antrag zerpflückte, der die Arbeit des Journalisten Deniz Yücel rügen sollte. Die Rede wurde zigfach auf Youtube hochgeladen, vom Rhetorik-Seminar der Uni Tübingen sogar zur "Rede des Jahres" gewählt. Zugleich kenne er keinen, lobt Lammert, der sich so oft mit Islamverbänden angelegt hätte wie Özdemir. "Er hat sich nicht gescheut, Klartext zu reden, auch zu Fragen, bei denen sich mancher gewünscht hätte, dass er sich raushält oder zumindest anders, zurückhaltender, vorsichtiger formuliert."
Lammert, früherer Bundestagspräsident, wurde im Jahr 2010 selbst mit dem Sternberger-Preis ausgezeichnet. Den Namensgeber zitiert er mit Worten aus dessen Antrittsvorlesung: "Gegenstand und Ziel der Politik ist der Friede." Özdemir trage dazu bei - weil er sich und andere herausfordere und so einen neuen Konsens ermögliche. "Friedensstiftung durch demokratischen Streit!"
In seiner teils staatstragenden, teils emotionalen Antwort stellt Özdemir die Bedeutung von Kompromissen heraus. "Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere recht haben könnte", zitiert er Hans-Georg Gadamer und betont: "Ohne Kompromiss hat man am Ende gar nichts". "Seien wir ehrlich: Vielfalt auszuhalten ist keine einfach Aufgabe. Aber sie macht den Unterschied aus zwischen Demokratie und Autokratie." Und deshalb widmet er den Preis "allen Lehrern der Demokratie - den Frau Moggs, die heute Kindern im Land neue Horizonte eröffnen". Aus dem Preisgeld von 10.000 Euro kann sich eine pensionierte Lehrerin in Bad Urach auf einen dicken Blumenstrauß freuen.