Plus Nach Russlands Angriff

Ostsee-Anrainer kommen näher zusammen

Klassenfahrt an die deutsche Küste: Die Repräsentanten des Ostseerats versammelten sich auf Einladung Baerbocks in Wismar.

03.06.2023 UPDATE: 03.06.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 44 Sekunden
400.000 Tonnen Weltkriegsmunition liegen noch in der Ostsee: Ihre Räumung ist eines der Themen des Ostseerats, dessen Mitglieder sich hier in Wismar darüber informieren. Foto: dpa

Von Mareike Kürschner, RNZ Berlin

Wismar. Als laute, durchdringende Schreie aus dem Hafenbecken kommen, dürften die Außenministerin am Ufer zuerst an Demonstranten gedacht haben. "Uahhh, uahhh, uahhh" schallt es vom Wasser herüber. Annalena Baerbock (Grüne) verzieht das Gesicht. Doch nach einem Moment der Unruhe entspannt sich ihre Miene. Denn nicht etwa Klimaaktivisten oder gar Unterstützer Russlands stören die Repräsentanten des Ostseerats, die sich auf Einladung Baerbocks in Wismar versammelt haben. Es sind Drachenbootfahrer, die in der Ostsee ihre Bahnen ziehen und sich der Aufmerksamkeit der Politiker offenbar nicht bewusst sind. Baerbock konzentriert sich wieder auf den Vortrag zur Munitionsaltlastenbekämpfung am Meeresboden – eines der Probleme, das die Ostsee-Anrainer gemeinsam angehen wollen. Die Ostsee, sie ist in vielerlei Hinsicht kein stilles Wasser.

Um Sicherheit, Freiheit und Widerstandsfähigkeit im Ostseeraum ging es am Donnerstag und Freitag beim Treffen der Außenminister des Ostseerates in der Hansestadt Wismar. Moskau bestimmte die Zusammenkunft – obwohl Russland seit vergangenem Jahr nicht mehr Teil des Gremiums ist und die demokratischen Ostsee-Anrainer durch den Ukraine-Krieg sichtbar näher zusammengerückt sind. In Wismar gaben sie ein harmonisches Bild ab – bereits bei der Anreise.

"Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland die sicherheitspolitischen Koordinaten auch im Ostseeraum brutal verschoben", sagte die deutsche Außenministerin bei der Pressekonferenz zum Abschluss des Treffens am Freitag. "Das Vertrauen, das wir seit 1992 in die Partnerschaft gesetzt haben, ist dahin. Wir hätten uns das alle anders gewünscht. Niemand außer dem russischen Präsidenten wollte diesen Krieg, niemand wollte, dass wir auch in dieser Ostseeregion nun anders über Sicherheit reden." Deutschland sitzt dem Rat noch bis Ende Juni turnusgemäß vor.

Die Idee des Ostseerates geht zurück auf Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP). Damals, Anfang der 90er Jahre, als Optimismus die Beziehungen zu Russland prägten, war die Institution als Zeichen der friedlichen Partnerschaft und des Dialogs gegründet worden. Russlands Mitgliedschaft in der Regionalorganisation, der neben Deutschland Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen, Island, Polen, die drei baltischen Staaten und die EU angehören, war Anfang März vergangenen Jahres ausgesetzt worden. Daraufhin erklärte Moskau im Mai 2022 seinen Austritt. Bis zum Angriff auf die Ukraine war der Rat eine der Runden, in denen konkrete Zusammenarbeit bei Fachthemen mit Russland möglich war. In Diplomatenkreisen gibt es jedoch auch eine andere Lesart: Zuletzt blockierte Russland nur, der Rat war de facto tot.

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Die verbliebenen Anrainer entschieden sich, nach dem Ausschluss Russlands den Rat wiederzubeleben, ihn strategisch anzupassen an die "Zeitenwende", wie Baerbock sagte. "Die Wikinger, die Hanse, der Große Nordische Krieg, die Weltkriege, der Kalte Krieg – in den Wassern der Ostsee spiegelt sich immer auch die Weltpolitik wider."

In Form von 400.000 Tonnen Munition liegt das Vermächtnis der Weltkriege noch immer am Ostseeboden – eine Gefahr für die ehrgeizigen Pläne des Windkraftausbaus der Anrainer-Staaten. Bis 2030 wollen die Länder die Energie aus Offshore-Windparks in der Ostsee versiebenfachen. Deutschland machte die Altlastenräumung deshalb zum großen Thema seines Ratsvorsitzes. "Gemeinsam müssen wir uns um die Räumung kümmern, auch um verstärkt Windkraft-Anlagen zu schützen", betonte die Ministerin. Immer wieder verzögern Munitionsfunde die Arbeiten an den Anlagen, zudem löst sich Munition vom Meeresgrund und ist so eine Gefahr für die Schifffahrt. Doch die Räumung ist kostenintensiv, konkrete gemeinsame Maßnahmen blieb der Rat zum Abschluss schuldig.

Den verbindenden Bogen des Treffens bildete die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Der Ostseerat verurteilte in seiner Abschlusserklärung das "aggressive, provokative und unbegründete" Verhalten der russischen See- und Luftstreitkräfte in und über der Ostsee. Dadurch würden generell akzeptierte Standards der Sicherheit auf dem Meer und in der Luft missachtet. Dies stelle eine Gefahr für Navigation und Kommunikation dar.

Beim Thema Sicherheit denke der Ostseerat nicht nur an militärische Sicherheit, sagte Finnlands Außen-Staatssekretärin Johanna Sumuvuori. Man diskutiere ebenso über Versorgungs-, ökonomische und Energiesicherheit, wenn es um die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaften in der Region gehe. Finnland übernimmt am 1. Juli den Vorsitz im Ostseerat von Deutschland.

Für den Gruppenzusammenhalt in Wismar und eine klimaschonende Anreise sorgte Baerbock schon vor Beginn: Sie nahm fünf ihrer Ostseeratskollegen aus Oslo vom dortigen Nato-Außenministertreffen im Flieger der Luftwaffe mit – inklusive Selfie. Der polnische Außenminister ließ sich vertreten, was als Zeichen der derzeit angespannten Beziehung zu Deutschland gewertet werden kann. Denn ganz so einig, wie es in Wismar zur Schau gestellt wurde, sind sich dann doch nicht alle Demokratien rund um die Ostsee.

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