Das Wort «Gott» ist an Fronleichnam in einem Blumenteppich zu sehen. Foto: dpa
Von Yuriko Wahl-Immel
Dortmund. Im Sprachalltag scheint er noch einen festen Platz zu haben: "Um Gottes Willen" oder "Gott sei Dank" heißt es oft. Aber tatsächlich haben Glauben und Religion in der Bevölkerung keinen leichten Stand. Der katholischen und evangelischen Kirche kehren Jahr für Jahr Mitglieder zu Zehntausenden den Rücken. Einer Prognose zufolge wird von aktuell 44,8 Millionen (2017) Katholiken und Protestanten im Jahr 2060 gerade mal die Hälfte übrig bleiben. Reformstau und Missbrauchsskandale schaden massiv. Den Osten Deutschlands sehen Experten gar als europäische Atheisten-Hochburg.
Keine rosigen Aussichten also zu Beginn des Evangelischen Kirchentags, der heute in Dortmund beginnt. Es ist ein Großereignis, bei dem sich die Prominenz die Klinke in die Hand gibt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) halten am Mittwochabend Eröffnungsansprachen zur Eröffnung.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU), ihre halbe Regierungsmannschaft sowie viele andere Schwergewichte aus Politik, Wissenschaft und Kultur diskutieren über Klimawandel, Zuwanderung oder sozialen Zusammenhalt. Zu den gut 2000 Veranstaltungen und dem Rahmenprogramm werden insgesamt über 100.000 Besucher erwartet.
Aber all das kann nicht über die Schwierigkeiten der Kirchen hinwegtäuschen. Nur eine Minderheit der Kinder und Jugendlichen wachse noch in Haushalten auf, in denen eine religiöse Erziehung stattfinde, schildert Religionssoziologe Detlef Pollack von der Uni Münster. Unter 16- bis 25-Jährigen seien nur 25 Prozent in West- und zwölf Prozent in Ostdeutschland daheim mit Religion großgeworden. Und er prognostiziert einen weiteren "Niedergang".
Der Präsident des 37. Kirchentags, Journalist Hans Leyendecker, beobachtet passend dazu: "Es gibt in der Tat junge Leute, die ihren Lehrer fragen, wer der Mann am Kreuz ist und was er da macht." Welche Bedeutung haben Glaube und Religion noch für die Bevölkerung?
Fragt man nach, kommt erst mal ganz viel anderes, erläutert Pollack. Wichtig sind Familie und Kinder, gefolgt von Freizeit und Erholung, dann Beruf und Arbeit, Freunde und Bekannte, Politik. Abgeschlagen dahinter sind Religion und Kirche dran.
Vielen sei der Gang ins Fußballstadion oder das Schwitzen beim Yoga "heilig". Eine kleinere - aber nicht irrelevante - Gruppe "glaube" an Astrologie, Magie oder Okkultismus, so Pollack. Und: "In dem Maße, wie sich Wohlstand erhöht, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass Menschen ein distanziertes Verhältnis zu Religion sowie zum Glauben an Gott entwickeln." Das gelte für jedes Land.
Bundesweit ist die Mitgliederzahl der katholischen Kirchen nach jüngsten Erhebungen auf 23,3 Millionen gesunken, bei den evangelische Kirchen sind es 21,5 Millionen. Pollack zufolge fehlt den Kirchen der "kulturelle Unterboden."
Große Sorgen bereitet ihm das aber nicht, denn: "Das heißt ja nicht, dass die moralischen Werte verloren gehen. Religion ist nicht die einzige Quelle für Haltungen wie Solidarität oder Gemeinschaftssinn."Das Christentum bleibe Teil der Kultur in Deutschland.
"Konfessionslos" ist auch nicht gleichzusetzen mit "atheistisch" - wer keiner Kirchen angehört, kann trotzdem glauben. Wie sieht es aus mit dem "Unglauben"? In Westdeutschland glaubt mehr als jeder Fünfte ausdrücklich nicht an Gott. Im Osten sind es 55 Prozent - "der höchste Atheisten-Anteil in Europa", sagt der Religionssoziologe Pollak.
Kirchentagspräsident Leyendecker ist dennoch nicht pessimistisch. Früher seien viele in die Kirche gegangen, weil man das eben so machte. "Wer heute dabei ist, der ist es nicht aus Konvention, sondern weil er es will."