Von Jan Draeger
Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal Goethe gelesen? Sie brauchen jetzt kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn das lange her ist. Wahrscheinlich geht es Ihnen wie vielen und Sie haben nur noch aus der Schulzeit seinen "Faust" und die Ballade vom "Erlkönig" in Erinnerung. Gerät Johann Wolfgang von Goethe zu Unrecht in Vergessenheit? Kann man aus seinen Gedanken für unsere momentan schwierige Situation schöpfen? Sind sie sogar ganz modern?
RNZ-Autor Jan Draeger sprach mit dem Literaturhistoriker Dieter Borchmeyer darüber, wie Goethe Krisen bewältigt hat, wie seine Gedichte Hoffnung geben können – und wie er sich heute als Gast in einer Talk-Show schlagen könnte.
Herr Borchmeyer, welche Krisen musste Goethe in seinem Leben bewältigen?
Gesundheitliche Krisen hat er oft genug durchgemacht. Schon bei seiner Geburt wäre er beinahe gestorben. Sein ganzes Leben ist von mehr oder weniger lebensbedrohlichen Krankheiten durchzogen: eine schwere Tuberkulose in seiner Leipziger Studentenzeit, dann hatte er eine Kopfrose, Nierenkoliken, Gichtanfälle, Bluthusten, mehrere Blutstürze, möglicherweise einen Schlaganfall, jedenfalls zwei Herzinfarkte und so fort. Es gab kaum vier Wochen, in denen er sich wirklich wohl fühlte, hat er einmal gesagt.
Immerhin wurde er 82 Jahre alt.
Dass er so lange gelebt hat, war vor allem für die damaligen Verhältnisse ein Wunder. Aber alt zu werden, sah er als seine Pflicht an. Als ein von ihm geschätzter Gelehrter mit 75 Jahren starb, sagte Goethe: "Was doch die Menschen für Lumpen sind, dass sie nicht Courage haben, länger auszuhalten als das!"
Wie hat Goethe das geschafft?
Mit einer unerhörten Lebensdisziplin. Und der Grundüberzeugung, dass man sich nicht von seiner Physis unterkriegen lassen solle. Aus allen Krisen, auch den Liebeskrisen – denken wir nur an die Krise, die "Werthers Leiden" zugrunde liegt – hat er sich immer wieder zu neuer Lebensenergie aufgerafft.
Können wir heute etwas daraus lernen?
Sicherlich. Goethe war ein hochanfälliger Mensch, aber er hat sich nie gehen lassen. Er litt auch immer wieder unter Melancholie und Schwermut, aber er hat sich doch stets mit größter Energie von solchen Verstimmungen befreit. Er konnte recht unerbittlich sein, wenn er in seiner Umwelt erlebte, dass man sich durch Gemütstrübungen von seinen Verpflichtungen gegenüber dem Leben abhalten ließ. Das gilt auch für den Umgang mit der Zeit.
Zeit sollte bei Goethe nicht verschwendet werden.
Andererseits konnte er sehr gesellig sein. Da hat er nicht auf die Uhr geschaut. Er lud ja ständig zum Mittagessen ein und hat dabei schon kräftig getrunken und gegessen. "Er frisset entsetzlich", hat der Schriftsteller Jean Paul von ihm gesagt. Aber nach dem Essen fing für Goethe die Arbeit wieder an. Wie er seine Zeit strukturiert hat, ist wirklich großartig. Wenn man dagegen sieht, wie die Menschen heute ihre Zeit verplempern und mit sinnlosen Unterhaltungssendungen im Fernsehen totschlagen, kann einem schon schlecht werden. Goethe hat in das Stammbuch seines Enkels einmal über die Nutzung der Zeit hineingeschrieben: "Söhnchen, werde dir die Kunde, / Was man alles leisten mag."
Gerade während der Corona-Krise lesen die Menschen wieder mehr – aber kaum Goethe.
Dabei passen seine Gedichte hervorragend in die heutige Zeit. Sie können einen Menschen ganz plötzlich beleben. Hoffnung war ein sehr wichtiger Begriff für Goethe. Die Hoffnung hat er nie aufgegeben. Wie im Gedichtzyklus "Urworte. Orphisch": "Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt: / Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer / Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt: / Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen; / – ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen." Das ist der Flügelschlag der Hoffnung, mit dem man die Vergangenheit hinter sich lässt.
Und die Romane – welche von ihm sollte man jetzt lesen?
"Die Wahlverwandtschaften"! In ihrer naturwissenschaftlichen Grundierung und psychologischen Abgründigkeit sind sie ungeheuer modern.
Konnten Sie als junger Mensch schon etwas mit Goethe anfangen?
Ich bin in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus aufgewachsen, wo Goethe immer ein Begriff war. Und eine Ur-Erinnerung ist eine Aufführung der "Iphigenie auf Tauris" bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Aus Recklinghausen stamme ich nämlich, und die Ruhrfestspiele wurden nach dem Krieg aus einer wirtschaftlichen Notsituation heraus geschaffen. Die Hamburger Theater wurden aus den Zechen um Recklinghausen kostenlos mit Kohle beliefert, dafür gaben sie einmal im Jahr dort Gastspiele. Und da war für mich die "Iphigenie auf Tauris" eine Sternstunde. Ich war damals 15 Jahre alt. Am Schluss des Stückes beim "Lebt wohl!", mit dem Thoas Iphigenie und Orest verabschiedet, bin ich so in Tränen geschwommen, dass ich gar nicht mehr die Bühne gesehen habe. Da habe ich mir gesagt, mit Goethe werde ich mich mein ganzes Leben beschäftigen.
Hat sich Ihr Goethe-Bild seitdem verändert?
Natürlich, in vieler Hinsicht. Jetzt steht mir der späte Goethe besonders nahe. Kurz bevor diese schreckliche Corona-Krise ausbrach, habe ich noch mit Senta Berger in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München den "West-östlichen Divan" gelesen. Das wollen wir, wenn es wieder möglich ist, in Heidelberg wiederholen. Es ist mir sehr wichtig, sein Werk auch erklingen zu lassen, es nicht nur zu lesen, sondern auch zu Gehör zu bringen. Der "Divan" ist heute, da Ost und West mehr und mehr zusammenwachsen, aktueller denn je.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen 1949 Berliner Schulkinder zum 200. Geburtstag Goethes ein Büchlein mit dem Titel "Goethe. Lebensbild.". Sollte man eine solche Aktion in der jetzigen Krise wiederholen?
Ja, wenn man dafür Abnehmer findet. Die Situation nach dem Krieg war natürlich eine ganz besondere, da der Nationalsozialismus die ganze deutsche Kultur sozusagen niedergetreten hatte. Man suchte damals die Werte der deutschen Kultur wiederzugewinnen. Da war Goethe wichtiger denn je. In den fünfziger Jahren gab es einen regelrechten Goethe-Kult. Und heute? Tja, es gibt den Film "Fack ju Göthe". Irgendwo scheint Goethe bei der Jugend noch präsent zu sein.
Goethe sucht ja auch selbst den Kontakt zur jüngeren Generation. Für jeden seiner Enkel hatte er einen Schreibtisch in sein Arbeitszimmer gestellt.
Die Beziehung zu Kindern ist bei Goethe sehr ausgeprägt. Freilich wurden seine drei Enkel dann etwas unglückliche Gestalten. Wie auch der Sohn August, der von der Überfigur seines Vaters gewissermaßen erdrückt wurde und keine eigene Existenz entfalten konnte. Ich selber habe deshalb als Vater immer großen Wert darauf gelegt, nicht irgendwie auf meine beiden Kinder drückend zu wirken. "Sohn zu sein" kann ein Fluch sein. Goethe selbst ist wohl nicht bewusst gewesen, wie belastend er für seine Nachkommen war.
Wird jüngeren Menschen heute Goethe durch die Schule verleidet?
Das kommt auf den Lehrer an. Wenn der Lehrer nur Goethe liest, weil er es als seine Pflicht betrachtet, ist das tödlich. Aber wer Goethe mit Begeisterung vermittelt, der kann auch Begeisterung auslösen.
Wären seine Bücher heute Bestseller?
Sein "Werther" war ein europäischer Bestseller, Napoleon hat ihn mehrfach gelesen. Auch der "Götz von Berlichingen" war ein europäisches Ereignis. Ob Goethe heute ein Bestsellerautor wäre, ist schwer zu sagen. Der literarische Markt wird ja von Agenten und Medien gesteuert, die es zu Goethes Zeiten noch nicht gab. Aber der Erfolg von Ulrich Plenzdorfs Buch "Die neuen Leiden des jungen W." zeigt, dass "Werther" immer noch fester Bestandteil unserer kulturellen Erinnerung ist.
Goethe und die Frauen – könnte man nach heutigen Maßstäben sagen, dass er sie für sein Schreiben benutzt hat?
Das würde ich so nicht sagen. Es waren ja wirklich echte Herzensbeziehungen. Sie sind in sein Werk eingegangen, aber nicht eins zu eins. Zum Beispiel stehen für die Lotte im "Werther" vor allem zwei Frauen, das sind Charlotte Buff und Maximiliane von La Roche. Es sind meistens mehrere Frauen, die in seinem Werk zusammenfließen. Auch bei der "Marienbader Elegie" kann man nicht sagen, dass er die erst 17-jährige Ulrike von Levetzow "benutzt" hat. Er hatte sich in das junge Mädchen leidenschaftlich verliebt, und das hat seine ganze Lebensdisziplin durcheinandergebracht, die er dadurch wieder herstellen konnte, dass er das elementare Liebeserlebnis in dichterische Form bannte.
Sie sind ja emeritiert. Reagierten unter Ihren Studenten Frauen anders als Männer auf Goethe?
Nun ja, Goethe ist wie kaum ein anderer ein Frauen-Dichter. Frauen fühlen sich, so scheint mir, von Goethe besonders tief verstanden. Schiller hingegen ist wohl mehr ein Männerdichter.
Könnten Sie sich Goethe heute als Politiker vorstellen?
Goethe hat im Herzogtum Weimar eine Form von erhaltender Politik vertreten, die zugleich auf ständige Erneuerung bedacht war. Also eine Haltung, die man als Reformkonservatismus bezeichnen kann. In den ersten zehn Jahren seiner Weimarer Tätigkeit als Minister war er sehr auf Reformen im Herzogtum bedacht. Seine Grundeinstellung war bis ins Alter, dass die Dinge alle 50 Jahre eine andere Gestalt haben. Ob er es noch einmal auf sich nehmen würde, wenn er noch leben würde, einen Teil seines Lebens der Politik zu opfern, glaube ich nicht. Schade, denn als Minister für Kultur täte er der Politik sehr gut.
Was könnte Goethe heute bewirken?
Er erstrebte als Schriftsteller etwas, was es bis heute nicht gibt: eine übernationale Arbeitsgemeinschaft, Kooperation, ein Netzwerk der Schriftsteller zunächst Europas, später einmal der Welt. Das meinte er mit dem von ihm geschaffenen Begriff der "Weltliteratur".
Wäre er ein gefragter Mann in Talk-Shows? Können Sie sich ihn bei Anne Will vorstellen?
Goethe war ein sehr gesprächsfreudiger Mensch. Er beherrschte noch perfekt die Regeln der Konversationskunst, wie sie in Frankreich ausgebildet worden sind. Aber in ihm steckte auch ein Teufel, wie von seiner Umgebung immer wieder bemerkt wurde. Weil er ein Widerspruchsgeist war, sich nicht festlegen lassen wollte. Ich denke da vor allem an seine Gespräche mit Madame de Staël, die er bei ihrem Weimar-Besuch schier zur Verzweiflung gebracht hat, weil er ihr ständig widersprach. Also die Anne Will hätte bei Goethe kein Bein auf die Erde gekriegt.
BIOGRAFIE
Dieter Borchmeyer. Foto: Philipp RotheName: Dieter Borchmeyer
Geboren am 3. Mai 1941 in Essen.
Eltern: Sein Vater Joseph Borchmeyer war Jurist und Politiker. Er war am Ende der Weimarer Republik Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei und nach dem Krieg Verteidiger von Alfred Hugenberg bei den Nürnberger Prozessen.
Werdegang: Dieter Borchmeyer wächst in Recklinghausen auf. 1961 studiert er in München Germanistik und katholische Theologie. Von 1972 bis 1979 unterrichtet er an einer Gesamtschule. 1982 wird er Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München, 1988 Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg. Als Honorar- und Gastprofessor lehrt er an Universitäten in Frankreich, Österreich und den USA und ist Ehrendoktor der Universität Montpellier III (Paul Valéry). Von 2004 bis 2013 ist Borchmeyer Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Im Rahmen einer Stiftungsprofessur (Manfred-Lautenschläger-Stiftung) hält er seit seiner Emeritierung weiter Vorlesungen an der Universität Heidelberg. Momentan schreibt er an einer umfassenden Werkdarstellung Thomas Manns, die 2022 im Insel-Verlag erscheinen wird.
Beziehung zu Goethe: Borchmeyer ist stellvertretender Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft in Heidelberg. Er ist außerdem Ehrenmitglied der Ungarischen Goethe-Gesellschaft, Träger der Goldenen Medaille der Goethe-Gesellschaft Weimar und des Bayerischen Verdienstordens. In seinem 2017 erschienenen Buch "Was ist deutsch – Die Suche einer Nation nach sich selbst" (Rowohlt, 1056 Seiten, 40 Euro) spielen Werk und Wirken Goethes eine zentrale Rolle.
Privat: Dieter Borchmeyer lebt zusammen mit seiner Frau in München. Er hat zwei Söhne.