Von Michael Ossenkopp
Boston. Zwei Männer mit falschen Bärten und Polizeiuniformen – laut FBI weißer Hautfarbe, einer Ende 20 bis Mitte 30, der andere Anfang bis Mitte 30 – klingeln um 1.24 Uhr am Seiteneingang des Museums. Gegen die strikte Anweisung, irgendjemanden einzulassen, öffnet einer der beiden Wärter die Tür. Die verkleideten Kriminellen überwältigen ihn und seinen Kollegen, fesseln die beiden, umwickeln ihre Augen und Münder mit Klebeband und ketten sie mit Handschellen im Keller an.
Nun beginnt einer der größten Kunstraube aller Zeiten: 13 Werke von teilweise unschätzbarem Wert (Experten gehen von 600 Millionen Dollar, also rund 540 Millionen Euro, aus) werden gestohlen, darunter Jan Vermeers "Konzert" aus der Zeit um 1665/66 und Rembrandts einziges Seestück, die höchst dramatische Darstellung von "Christus im Sturm auf dem See Genezareth" von 1633. Die Leinwand des 0,8 mal 1,20 Meter großen Gemäldes schneiden die Gangster einfach aus dem Rahmen. Offenbar ein Hinweis, dass es sich nicht um Kunstkenner handelt, denn das fragile Gemälde nimmt Schaden.
Ein intern ausgelöster Alarm hindert sie nicht an der Fortsetzung ihrer Diebestour, sie schalten ihn einfach ab. Auch die unfachmännische "Entnahme" von Manets "Chez Tortoni" mit brachialer Gewalt lässt sie ihr Tempo einhalten. Bevor sie den Tatort verlassen, kassieren sie noch das Videoband aus dem Rekorder, der damals ihre Tour durchs Museum aufgezeichnet hatte. Um 2.45 Uhr verlassen sie das Gebäude.
Manets „Chez Tortoni“ wurde ebenfalls Teil der BeuteErst am nächsten Morgen gegen sieben Uhr entdeckt ein Museumsmitarbeiter die beiden gefesselten Wärter und alarmiert die Polizei. Es ist der Tag nach den Feierlichkeiten zum irischen St. Patricks Day. Warum die Diebe wertvollere Stücke wie Tizians Meisterwerk "Raub der Europa" und ein Selbstporträt Rembrandts zurückließen, bietet Raum für Spekulationen. Vielleicht war die "Europa" mit mehr als zwei Metern Breite zu sperrig? Die "Landschaft mit Obelisk" von Rembrandt-Schüler Govaert Flinck wurde hingegen eingesackt, ebenso eine Rembrandt-Radierung mit einem briefmarkengroßen Selbstporträt, fünf Zeichnungen von Degas und eines von Manets Männerbildnissen.
Das Museum im Herzen von Boston wurde im Stil eines venezianischen Palazzos errichtet und 1903 eröffnet. Stewart Gardner galt als begeisterte Kunstsammlerin, ihr Mann "Jack", ein reicher Bostoner Reeder, war 1898 verstorben und hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Sie nutzte ihre finanziellen Möglichkeiten für den Bau und die Ausstattung eines privaten Museums und kaufte unter anderem Werke von Michelangelo, Botticelli, Raffael, Cellini, Velázquez und Matisse.
Für Vermeers Gemälde "Das Konzert" konnte sie tiefer in die Tasche greifen als Vertreter der National Gallery in London und des Pariser Louvre und ersteigerte es 1892 über Mittelsmänner für die damals gewaltige Summe von 29.000 Francs. Sein heutiger Wert wird auf mehr als 200 Millionen Dollar geschätzt, es gilt als das weltweit wertvollste verschwundene Gemälde. Weil Stewart Gardner verfügt hatte, dass auch nach ihrem Tod nichts an der Sammlung verändert werden dürfe, durften die Ausstellungsstücke nicht versichert werden. So konnte selbst bei einem Schadensfall keine Prämie erstattet werden und es blieben nur leere Rahmen zurück.
Seit 30 Jahren gehen Spezialeinheiten der Polizei, des FBI und selbstständige Detektive alten Spuren nach, kümmern sich um neue Hinweise und versteigen sich in abstruse Theorien. Doch von dem Diebesgut gibt es nach wie vor keine Spur. Auch die später angeordnete Untersuchung auf DNA-Informationen am Klebeband, mit dem die Wärter gefesselt worden waren, brachte keine neuen Erkenntnisse. Der Journalist Ulrich Boser traf den Detektiv Harold Smith, der sich zuvor intensiv mit dem Fall beschäftigt hatte und für seine Aufklärungsquote berühmt war. Als Smith starb, übernahm Boser dessen Akten und sprach mit Verdächtigen, Zeugen und Experten. 2009 stürmte Bosers Buch "The Gardner Heist" die Bestsellerlisten.
Die Diebe schnitten das Gemälde aus dem Rahmen, der heute immer noch leer istMit den Jahren gab es gewagte Theorien über Hintermänner des Diebeszugs, sie reichten vom Vatikan über die Irisch-Republikanische Armee, Scheichs aus dem Mittleren Osten bis zu gierigen Milliardären. Einige der Bilder sollen schon 1994 auf dem Schwarzmarkt in Philadelphia angeboten worden sein. Ein anonymer Briefschreiber bot gegen 2,6 Millionen Dollar und komplette Immunität die Rückgabe der Gemälde an. Der Verfasser offenbarte großen Sachverstand über die Bilder und die internationale Kunstszene. Doch das Museum und die Behörden wollten sich nicht auf den Deal einlassen, der Verfasser blieb im Dunkeln.
Einer der beiden Wachmänner, Rick Abath, geriet wegen verdächtigen Verhaltens in der Nacht des Diebstahls (er öffnete und schloss während seiner Patrouille eine Seitentür vielleicht als Zeichen an Komplizen) schon früh ins Visier der Ermittler. Allerdings war er ihrer Ansicht nach für einen Coup dieser Größenordnung "zu inkompetent und zu dumm".
James "Whitey" Bulger war 1990 einer der mächtigsten Verbrecher Bostons und Boss der "Winter Hill Gang". Er bestritt zwar jede Beteiligung an dem Raub in "seinem Hinterhof", wollte deshalb aber von den Tätern eine anteilige Zahlung – die er jedoch angeblich nie erhielt. Im Oktober 2018 wurde der 89-jährige Bulger von zwei anderen Häftlingen in einem Hochsicherheitsgefängnis in West Virginia zu Tode geprügelt.
2013 sagte FBI-Agent Geoff Kelly, dass es "glaubwürdige Quellen" gebe, wonach die vermissten Gemälde gesehen worden seien. Drei Verdächtige, die in Verbindung mit dem organisierten Verbrechen und der Mafia standen, wurden jahrelang immer wieder genannt: Carmello Merlino, Robert Guarente und Robert Gentile. Die Erstgenannten sind mittlerweile tot, der inzwischen 82-jährige Gentile – im März 2019 nach 54 Monaten aus der Haft entlassen – bestreitet jegliches Wissen über die in Boston entwendeten Kunstwerke und beschwört weiterhin seine Unschuld. Guarentes Frau Elene behauptet jedoch, dass ihr Mann bereits 2003 Gentile eines der entwendeten Bilder überlassen habe. Allerdings fand man bei einer Durchsuchung seines Hauses nur eine Liste der gestohlenen Meisterwerke.
Jan Vermeers „Konzert“Kurz nach dem Raub waren die drei Ganoven Leonard V. DiMuzio, David Turner und George A. Reissfelder mit dem Überfall in Verbindung gebracht worden. DiMuzio war ein gewiefter Einbrecher und Mitglied der Merlino-Gang. Turner, genannt "Golden Boy", sah dem Phantombild ähnlich und pflegte enge Verbindungen zur Bostoner Mafia. Reissfelder besaß einen roten Dodge Daytona, Baujahr 1986, wie er von mehreren Augenzeugen am Tatabend vor dem Museum gesehen worden war.
Außerdem behaupteten Verwandte von George A. Reissfelder, sie hätten drei Monate nach dem Museumsraub den gestohlenen Manet an der Wand seines Appartements hängen sehen. Reissfelder starb 1991 an einer Drogenüberdosis, DiMuzio wurde im gleichen Jahr erschossen. Turner saß 21 Jahre lang wegen anderer Delikte bis vergangenen November im Gefängnis; seit seiner Freilassung schweigt jedoch er eisern über den Museumsraub. Nach Recherchen von Ulrich Boser habe sein Mafia-Boss Merlino zwei Mal erfolglos versucht, mit dem FBI die Rückgabe der Werke auszuhandeln.
Selbst eine Belohnung in Höhe von zehn Millionen Dollar, die für die Wiederbeschaffung der Gemälde vom Museum ausgelobt wurde, brachte bisher keinen Erfolg. Es gab zwar immer wieder Hinweise aus der Bevölkerung, aber keinen wirklich heißen Tipp – obwohl US-Bundesanwältin Carmen Ortiz den heutigen "Besitzern" des Diebesguts Straffreiheit anbietet, denn die Tat von 1990 ist verjährt. "Für uns ist vorrangig, die Gemälde zurückzuerhalten", erklärt Ortiz.
In der Unterwelt der internationalen Kunstszene sind die Bilder nie aufgetaucht. Dass die gestohlenen Gemälde vernichtet wurden, glaubt FBI-Mann Kelly dennoch nicht. "Bei irgendeiner anderen Ware wäre ich vielleicht pessimistisch, was die Wiederbeschaffung angeht. Aber bei Kunstwerken ist es nicht ungewöhnlich, dass sie über lange Zeit verschollen sind." Die Ermittler hoffen, dass "die Werke in irgendeinem Schuppen in der Nähe von Boston lagern und irgendwann gefunden werden". Laut FBI sind die Chancen dafür allerdings eher gering. Und so bleiben auch nach 30 Jahren die Rahmen im Gardner Museum bis auf Weiteres leer …