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Ja, auch ich gehöre zu den Totengräbern. Und, ja, ich war auch nicht da, als man da sein sollte. Und nun sind sie alle nicht mehr: diese wunderbaren Schallplattenläden in Heidelberg. Nein, es liegt nicht daran, dass keiner mehr Schallplatten anhören will, weil diese analoge Technik so aus der Welt gefallen ist. Es liegt eher daran, dass die Plattenfreunde von heute ganz andere Möglichkeiten haben, an ihre Schätze zu kommen: Musste man vor 20 Jahren ins "Klaatu" an der Sofienstraße oder ins "Crazy Diamond" in der Poststraße, so hat man heute alle möglichen Internet-Marktplätze, um genau die Pressung von Horace Silvers "Song for my Father" zu bekommen, die man will: die Originalpressung von 1963 oder eine spätere Version, ein Reissue. Normalerweise gab es im Laden nur eines: entweder die frisch gepresste Scheibe dieser epochemachenden Jazz-Edition oder in einem Antiquariat eine alte zu ziemlich unglaublichen Preisen.
Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Momentan listet die Internet-Seite "www.discogos.com" - eine Art Musikflohmarkt wie Ebay - für diese Platte 215 Titel auf, in 52 unterschiedlichen Versionen und allen erdenklichen Erhaltungsgraden, von zwei bis 400 Euro. Mit ein paar Klicks hat man dann den Hard-Bop-Klassiker, den man haben will. So machte ich es natürlich auch. Ich ging nicht mehr ins "Klaatu" (seit 2002 geschlossen), auch nicht mehr ins "Vinyl Only" am Uniplatz, um zu schauen, was gerade da war. Ich ging ins Internet. Und so waren bald die meisten Geschäfte Geschichte (das "Crazy Diamond" schloss erst unlängst für immer und überdauert vielleicht als Internet-Shop) - und ganz ohne die freundlich-kompetente Hilfe dieser "richtigen" Läden hatte ich dann genau die Platte, die ich haben wollte.
Na gut, man mag die Läden betrauern, die in Heidelberg Platten verkauften - wobei ich am allermeisten den netten Waldemar "Val" Seifert in der Kettengasse vermisse: Ein freundlicher, absolut nicht verschrobener Mann (was selten ist in dieser Branche), der in seinem "Down Town Records" ein paar besondere Schätzchen hütete, die er nach wochenlanger Recherche in Kalifornien mühsam über den Großen Teich expedieren ließ. Vor fünf Jahren ging er nach Freiburg - und ich wollte immer mal vorbeischauen, habe es aber nie gemacht.
Oder wenn man es sich mal so richtig gut gehen lassen wollte, fuhr man nach Mannheim ins "World of Music" (Paradeplatz) oder ins Medienhaus Prinz (Breite Straße), die machten aber schon 1994 bzw. 2001 zu. Und ganz verschwunden ist die stolze Tradition von Plattenläden in Heidelberg ja auch nicht: Es gibt seit 35 Jahren "Ronnies Records" in der Bahnhofstraße. Jüngeren Datums sind das "Musikzimmer Heidelberg" (2009 in der Unteren Straße gegründet) und das Vinyl-Café "Pannonica" (seit 2014 in der Ingrimstraße) wenn auch nicht unbedingt mit dem Schwerpunkt Jazz, also meinem.
Aber, um noch ehrlicher zu sein, fehlen mir noch mehr die Schatzgruben außerhalb der Kurpfalz. Bis weit nach der Jahrtausendwende flog ich nach London, um mich dort mit dem einzudecken, was hier nie zu bekommen war. Mein erster Weg führte mich stets in die 180 Shaftesbury Avenue im Amüsierviertel Soho. Dort hatte Ray Smith einen Plattenladen ("Ray’s Jazz Shop") mit einem bemerkenswert übellaunigen Personal, dem man besser nicht mit blöden Fragen kam ("May I listen to this record, please?"). Hatte man das Unglück, und Ray Smith stand selbst hinter dem Tresen, hatte man wegen des uncharmanten deutschen Akzents wenig freundlicher Anteilnahme zu gegenwärtigen. Und doch: Wurde einem die Huld eines Plattenspielers zuteil, und man durfte die Plattenrillen auch nur einmal antippen, fühlte man sich wie ein König, kaufte eine Unmenge Zeug (in Rays Keller waren damals noch Kisten voll mit Schellackplatten, die man niemals abspielen durfte) und entschwand aus diesem tabak- und staubgeschwängerten Raum, als wäre man gerade unweit des Towers von der Queen selbst zum Ritter geschlagen worden. 2002 akzeptierte Smith für diese wunderbare Lage keine Mieterhöhung mehr, er gab sein Geschäft auf und starb schließlich 76-jährig 2011 in London.
Eine andere Anlaufstelle war an einem anderen Ende der Stadt, am Bahnhof King’s Cross. Dort, inmitten eines Drogendealer-Paradieses, lag "Mole Jazz". Ein noch düsterer Ort über drei Etagen mit einem noch ausgesucht-unfreundlicheren Ambiente: Wer dort kaufte, musste deutlich hartleibiger als bei Ray sein und sich die Ehrerbietigkeit, mal etwas vorspielen zu lassen, mit umso demonstrativer Unterwürfigkeit erkaufen. Auch "Mole Jazz" gibt es seit 2004 nicht mehr. Und jedes Mal, wenn ich nach London komme, bin ich seither heimatlos: Wo gibt es diese schrägen Läden noch, in denen ich mich ungestört durch noch schrägere Plattenstapel wühlen kann? Ja, es gibt sicherlich noch einige, so am Camden Market, wo man auf durchgeknallte Jazz-Touristen mit dickem Portemonnaie wie mich mit noch durchgeknallteren Preisen wartet.
Und auch hier in Heidelberg vermisse ich seit einem Jahr den Laden "Vinyl Only". Vor knapp 20 Jahren belohnte ich mich nach einer Uni-Abschlussprüfung mit einer Platte für stolze 48 Mark, Henry Mancinis Soundtrack zum Abenteuerfilm "Hatari" (am bekanntesten ist heute noch der "Baby Elephant Walk"). Heute gibt es das im Internet bei www.discogs.com in 39 Versionen mit 138 Angeboten von 1,38 bis zu 1000 Dollar. Angehört habe ich mir die Platte genau einmal. Und doch verbinde ich diese Scheibe immer mit einem Laden am Uniplatz in einem ganz besonderem Moment meines Lebens. Das ist mir heute noch 48 Mark wert.