Ein Musiker von „Klank“ (oben) legt diverse Klangerzeuger für die Aufführung von „Sinshome“ parat; ein Stück, das viele Gäste fragend zurück ließ. Fotos: Berthold Jürriens
Von Berthold Jürriens
Sinsheim. Grenzen ausloten und überschreiten, hinein in die Bereiche des Nicht-Hörbaren, des eigentlich Nicht-Spielbaren, des vielleicht sogar Unerträglichen. Weg von der bekannten Musiksprache, deren Vokabular Dur und Moll ist, und hin zur Neuen Musik. Das Publikum in der Rolle von Klangforschern, die sich beim Konzert "Unerhört" in der neuen Dr.-Sieber-Halle dem Kosmos von Klängen, Ideen, aber auch außermusikalischen Einflüssen und Haltungen vom musikalischen Leiter Erwin Schaffer, dem Vokalensemble Sinsheim und vor allem von Christoph Ogiermann und Tim Schomacker vom Musik-Aktionsensemble "Klank" aussetzten. Eine audiovisuelle Performance, die die einen vor Erstaunen, Neugier und Faszination in die Stühle presste – und andere nach der Pause nicht zurückkehren ließ. Genau die Wirkung, die der Bremer Komponist Ogiermann erzielen wollte. Am Ende solle ein großes fragendes "Häh?" stehen, sagte er vor der Uraufführung des modernen Oratoriums von "Sinshome, oder: Die größte Kraft".
Dessen inszenatorischer "Plan" – nicht das eigentliche Stück – hatte im Jahr 2019 den Sonderpreis des "ad libitum"-Wettbewerbs des Netzwerks Neue Musik Baden-Württemberg erhalten. An dessen Ende, als die Chormitglieder mit ihren Smartphones deklamierend den Saal verlassen hatten, und die Gäste nur noch die Gesichter der Sänger auf der Leinwand durch eine Handylinse sahen, war die Transformation vollzogen: Die Auflösung aller "körperlichen Versammlungen"; der Sieg der "größten Kraft"; die Verwandlung vom "Mehrzeller zum Einzeller"; die Entstehung einer Geräterepublik – "Alle Macht den Drähten".
Zuvor wurde die absurde und vielleicht doch so realitätsnahe Veränderung der Masse musikalisch erzählt. Mit visuellen und akustischen Effekten, rezitierendem Chor, Filmeinspielern an Sinsheimer Schauplätzen und einem mutig und klangvoll singenden und sprechenden Countertenor mit hochgekrempeltem linken Hosenbein in Person von Berkan Zerafet.
Playbacks unterstrichen eine bedrückender werdende Atmosphäre. Der visuelle Part bestach mit der Auflösung bekannter Filmästhetik. Der Chor löste sich allmählich selbst auf, nachdem er alle – vom Metzger zum Metaphysiker – überzeugt hatte, sich in die jeweiligen produktiven Zellen zurückzuziehen. In Schwarz gekleidete Sänger ließen als Chor mal die "Todkranke", mal den "Jesuiten" sprechen. Das Vokalensemble leistet ganze Arbeit, auch weil Rhythmik und Ausdruck des Sprechens nicht gleich Gesang sind. Gezückte Smartphones kreisten Konzertgäste klaustrophobisch ein. Über die Inszenierung legten "Klank", zu denen auch Markus Markowski und Reinhart Hammerschmidt gehören, ein improvisierendes, kompromisslos forderndes Musikkonzept.
Ein Musiker von „Klank“ (oben) legt diverse Klangerzeuger für die Aufführung von „Sinshome“ parat; ein Stück, das viele Gäste fragend zurück ließ. Fotos: Berthold JürriensMan musste bereit sein, sich dem auszusetzen. Auch bei den anderen Darbietungen von Neuer Musik an dem Abend, die Schaffer und Moderator Rolf Geinert dem Publikum erläuterten: Unter der Leitung von Jörg Burgstahler ließ das Schlagzeugensemble der Musikschule Sinsheim Pietro Dossenas "Déjà vu#1" mit einem konstanten Beat erklingen und hatte als "Klangerzeuger" einen Haartrockner im Einsatz. Mit "Pling" von Fredrik Zeller für vierhändiges Klavier, Violine und Schlagzeug sorgten Cornelia Ritz, Werner Freiberger, Katharina Riek und Jörg Burgstahler für Beifall und Fragezeichen in den Gesichtern.
Ogiermanns Stück "K_Wahl" ließ Schüler des Wilhelmi-Gymnasiums in Sinsheim und den Kammerchor des Hartmanni-Gymnasiums Eppingen sowie das Vokalensemble auf der Bühne zusammenkommen. Über dem Rauschen einer alten Filmspule hörte man das Stöhnen eines Einzelnen, der dem Publikum den Rücken zugewandt hatte. Kurzwellensignale unterstrichen die Seltsamkeit. Einen Klangkosmos mit Sogwirkung erzeugten "Klank" beim Stück "KTS – Kraft Towards Schidlowsky", auch wenn es anschließend einige eher nach Hause zog.
Bürgermeister Jörg Albrecht durfte Teil des Ganzen werden und auf dem Tageslichtprojektor grafische Notationen in Form von Strichen und Punkten legen, zu denen "Klank" direkt an die Nervenenden der Besucher andockten: Rattern, Knirschen, Wischen, aber auch Geigen- oder Kontrabassklänge. Eine Entdeckungsreise in die Avantgarde-Musik.
Ogiermann hatte zuvor die "ungewöhnliche beständige und fruchtbare Zusammenarbeit" mit dem Vokalensemble seit 2016 gelobt. Teile des Programms sind am 6. Februar um 22.03 Uhr im Deutschlandfunk Kulturradio zu hören. "Sinshome" wird am 5. Februar um 19 Uhr beim 40. Eclat-Festival für Neue Musik in der Stuttgarter Staatsoper aufgeführt.