Das Gebäude der Psychologischen Beratungsstelle in Sinsheim. Foto: Christiane Barth
Sinsheim. (cba) Früher scheinen sogar die Probleme überschaubarer gewesen zu sein. Dass die Menschen heute gleich mehrere "Baustellen" haben, zeichnet sich in der Psychologischen Beratungsstelle immer deutlicher ab. Beim Gespräch mit Albrecht Oettinger, dem Leiter der Einrichtung, wird klar, dass auch Corona am Seelenleben rüttelt.
Doch es gibt auch Positives zu berichten. Die Beratungsstelle legte gerade ihren Jahresbericht 2019 vor. Besonders freut sich Oettinger über neue Angebote, die im vergangenen Jahr hinzugekommen sind, etwa "Starke Erziehung – Beratungsstelle und Kita in Kooperation": Man habe den Zuschlag für dieses auf drei Jahre angelegte Projekt der Evangelischen Landeskirche bekommen. Zehn Wochenstunden stünden dafür zur Verfügung. Das Angebot richtet sich an Eltern in der Kita vor Ort. Im Martin-Luther-Kinderhaus Sinsheim und in der Kita in Steinsfurt habe man es bereits umgesetzt, und demnächst sollen auch die Kitas in Reichartshausen hinzukommen. "Die Idee ist, das Angebot niederschwellig zu halten", erklärt der Diplompsychologe.
Neu ist auch, dass die Schulung von Mitarbeitern in Kindertagesstätten im Bereich Kinderschutz nun in der Psychologischen Beratungsstelle Sinsheim stattfindet, zuvor wurde diese Fortbildung im Landratsamt Heidelberg angeboten. "Dieses Angebot wird sehr gut angenommen", sagt Oettinger. Außerdem hätten es Spendengelder ermöglicht, nun eine Mitarbeiterin in "Entwicklungspsychologischer Beratung" ausbilden zu können, einem speziellen Verfahren, bei dem Eltern von Kleinkindern und Säuglingen mittels Videoberatung in der frühkindlichen Interaktion unterstützt werden. Die Sprechstunde für Eltern der Allerjüngsten bietet praktische Hilfe an, etwa für das Schreibaby oder den Aufbau einer guten Mutter-Kind-Bindung.
Der Bedarf an psychologischer Hilfestellung hat sich erhöht, eine Fallzahlsteigerung von 20 Prozent habe sich bereits im vergangenen Jahr abgezeichnet. Der Bedarf sei landesweit im Laufe der vergangenen Jahre stetig angestiegen. Vielfältige Faktoren seien dafür verantwortlich, allen voran das Auseinanderbrechen von Familien, viel Druck, der auf diesen laste sowie hohe Ansprüche an die Institution an sich. Und unter Corona, so viel kann Oettinger bereits über das Jahr 2020 berichten, sei der Bedarf nach psychologischer Betreuung erneut gestiegen: "Jetzt wird so langsam deutlich, dass die Familien mehr und mehr unter Druck geraten sind." Der Spagat, die Kinder zu Hause zu betreuen und zu schulen, gleichzeitig den Anforderungen im Job zu genügen – alles unter geänderten Vorzeichen – und darüber hinaus das "Eingesperrt sein": All dies habe vermehrt zu Spannungen geführt.
Sehr vorsichtig drückt sich Oettinger aus, wenn es um das Thema Kinderschutz und Misshandlung sowie Missbrauch geht. Auf diese Problematik habe sich "Corona auch nicht sehr günstig ausgewirkt." Die kontrollierende Instanz, wie Kita oder Schule, habe gefehlt. "Man muss befürchten, dass in dieser Zeit schlichtweg mehr passiert ist", meint Oettinger. Und noch ein weiteres Problem, das Corona nach sich zieht, werde sich wohl erst in der kommenden Zeit herauskristallisieren: Die Schere zwischen Familien, die "diese Zeit gut hingekriegt haben" und jenen, "die nicht so viele Ressourcen haben", werde weiter auseinandergehen und für weitere Konflikte sorgen.
Die Beratungsstelle ist außerdem im Kinderschutz tätig: Sogenannte "Insoweit erfahrene Fachkräfte" beraten in Kooperation mit dem Jugendamt Kitas und Schulen, wenn es um die Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung geht. Im Jahre 2019 hätten sich da die Fallzahlen, die von den Schulen an die Beratungsstelle herangetragen wurden, verdoppelt.
Zudem habe sich abgezeichnet, dass Fälle immer komplexer werden. "Da spüren wir eine deutliche Zunahme." Oft haben die Menschen nicht nur mit einem Problem zu kämpfen, sondern mit mehreren, wenn etwa zu den Schwierigkeiten auf der Elternebene noch finanzielle Sorgen oder Auffälligkeiten beim Kind hinzukommen, wenn "mehrere Baustellen gleichzeitig" behandelt werden müssten, sagt Oettinger. "Die Zahl der psychischen Erkrankungen wie Angststörung oder Depression bei Kindern nimmt deutlich zu." Als Gründe nennt Oettinger die zunehmende Vereinzelung von Kindern, die mehr und mehr ohne Geschwister aufwachsen, den wachsenden Druck oder die Trennung der Eltern. "Nur noch bei 55 Prozent der Kinder, die im vergangenen Jahr zu uns gekommen sind, leben noch beide Eltern zusammen."
Fünf Fachmitarbeiter und zwei Mitarbeiter im Sekretariat sind in der Psychologischen Beratungsstelle beschäftigt. Die Wartezeit für Termine liegt derzeit bei etwa vier Wochen.