Von Tim Kegel und Falk-Stéphane Dezort
Sinsheim. Das Polizeiaufgebot inklusive Reitern, Hundestaffel, zwei Wasserwerfern und über der Stadt kreisenden Helikoptern, entsprach dem Doppelten dessen, was bei Bundesligaspielen in der Sinsheimer Arena im Einsatz ist. Im Vorfeld war von großem Konfliktpotenzial die Rede, einzelne Beobachter hatten bis zu 15.000 Menschen erwartet. Am Ende demonstrierten offiziell zwischen 800 und 1000 Personen bei der Kundgebung auf dem Freibad-Parkplatz gegen die Corona-Maßnahmen; noch einmal rund 3500 hätten sich in der Peripherie und der Sinsheimer Innenstadt aufgehalten.
Eine Art Tauziehen, das Abbild einer politisierten, sich spaltenden Gesellschaft. Da war das "Bündnis für Toleranz", das sich in einer Pressemeldung trotz "sicherlich berechtigter Kritik an der Umsetzung" einzelner Schutzmaßnahmen "zufrieden mit den getroffenen Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Pandemie und zum Schutz der Gesundheit aller Bevölkerungsgruppen" zeigte; da war die Sinsheimer "Anti-Aluhut-Aktion", die zuvor in einem Schreiben an Stadtspitze und Gemeinderat appellierte, "ein klares politisches Statement" gegen die Demonstration zu setzen und sich von der "Querdenken"-Bewegung zu distanzieren, die sich ihrerseits nicht genügend "von rechtsradikalen, verschwörungsmythischen oder sonstigen die Demokratie gefährdenden Strömungen" distanzierten. Da war Hermino Katzenstein, Landtagsabgeordneter der Grünen, der ähnlich klang: Am Rande der Demo sagte er, zur Würde des Menschen gehöre "de facto Gesundheit"; er hoffe auf Einhaltung der Corona-bedingten Auflagen; Demonstrationen seien "ein Grundrecht". Dass hier und heute demonstriert werde, zeige auch, "dass wir in keiner Diktatur leben".
Wasserwerfer hatten eher abschreckenden Charakter. Foto: KegelUnd da ist auch: Der Gastronom aus dem Kraichgau, gekommen, weil er sich sorgt, dass durch die Corona-Maßnahmen "Kultur und Wirtschaft verstümmelt" würden.
Da ist die junge Mutter aus einem Sinsheimer Stadtteil, die sagt, dass sich ihre Kinder "verändert" hätten, "psychisch und physisch weniger gesund" dastünden als noch vor einem Jahr; die Monate im Lockdown hätten den Bub und das Mädchen "gebrochen". Und weil sie demonstrieren geht, hätten sich Teile ihrer Familie von ihr entfernt.
Ein dritter Sinsheimer hat "einfach Angst um die Zukunft"; eine Familie aus einem Nachbarort ist hier, "um sich das mal anzuschauen". Die wenigsten "leugnen" das Virus.
Auch eine Krankenschwester, eine Erzieherin und ein Apotheker sind unter den Demonstranten. Viele sind argumentativ sattelfest, hinterfragen politische Aussagen und Statistiken: Warum bei der Inzidenz nicht Anzahl und Ergebnis der Corona-Tests eingerechnet, oder weshalb positive PCR-Tests bei Symptomlosen nicht wiederholt werden – solche und ähnliche Fragen werden gestellt.
Die sich hier treffen, eint die Forderung nach einem breiteren wissenschaftlichen Diskurs, besserer Aufklärung durch die Politik, dem Einholen von Zweit- und Drittmeinungen, eines Strategiewechsels, um das wirtschaftliche Überleben ganzer Branchen, das zwischenmenschliche Miteinander, das Wohl der Kinder zu sichern.
Reichsflaggen sieht man nicht, eher Hippie-Symbolik. Zwar geben sich die Köpfe der "Querdenken"-Bewegung auf der Bühne die Klinke in die Hand, moderiert von Nana Domena, Moderator mit Wurzeln in Ghana und "Person of Color". Allen voran peitscht auch der umstrittene Sinsheimer Arzt Bodo Schiffmann per Fernschalte aus seinem Exil in Afrika die Masse ein und zitiert in scharfem Ton zahlreiche eingeschränkte Grundrechte. Am Rand des Wiesentals stand, das hieß es auch bei der Polizei, ein breiter Querschnitt der Gesellschaft: Viele kamen aus dem gesamten Süden, auffällig viele Sinsheimer waren dieses Mal auf dem Platz.
Viele Versammelten ziehen Parallelen zur Friedensbewegung und zum Mauerfall im Jahr 1989. Damals habe auch "das gemeinsame Thema die Menschen geeint: Freiheit", sagt ein Teilnehmer, ebenfalls aus der Kurpfalz, der sich zur Volksgruppe der Sinti zählt.
Eine weitere Gruppe drängt auf den Platz, nach anfänglichen Rangeleien und Tiraden gegen die Polizei, deeskaliert diese und drückt ein Auge zu. Applaus für die Beamten. "Aus Infektionsschutzgründen" habe man die sich bildenden Pulks entzerrt, sagt die Einsatzleitung. Und manchmal wird es auch grotesk, wie bei den "Wir impfen Euch alle!"-Rufen extrem linker Gruppen.
Zur selben Zeit am Wächter: Der Platz füllt sich. Laute Musik ist zu hören. Eine große Menschengruppe – ohne Abstand und nur wenige mit Maske – zieht mit Friedensfahnen und Trillerpfeifen ausgestattet durch die Bahnhofstraße bis zur Ecke Muthstraße. Sie skandieren "oh wie ist das schön, so ’was hat man lange nicht gesehen".
Kurze Zeit später und wenige Meter Richtung Innenstadt bezieht die Polizei Stellung. Kurz vor 16 Uhr blockieren die Beamten die Zuwege und sperren die Wege Richtung Bahnhof und durch die Fußgängerzone ab.
Es kommt zu Diskussionen zwischen den Beamten und den umstellten Demonstranten. Die Polizei bittet per Lautsprecher Familien mit Kindern, die Örtlichkeit zu verlassen. Einige kommen der Aufforderung nach, andere nicht. Ein Elternpaar spielt inmitten der Absperrung mit ihrem Kind Fußball.
Um 17.15 Uhr wird die Blockade auf Höhe des Finanzamts aufgelöst, kurze Zeit später geben die Polizisten auch die Brücke wieder frei. Zuvor hatten sie sich noch die Personalien einiger Demonstranten notiert.