Wenn beim Lesen und Schreiben was fehlt: Rund 14 Prozent der Erwerbsfähigen in Deutschland gelten als Analphabeten. Mit einem neuen Projekt will das MGH Mosbach Betroffene erreichen. Foto: Schattauer
Mosbach. (rnz) Lesen und Schreiben - eigentlich selbstverständlich, dass man das kann. Oder doch nicht? Auch im hoch entwickelten Deutschland gibt es erstaunlich viele Menschen, die nicht Lesen oder Schreiben können, oder zumindest große Schwierigkeiten damit haben.
Im Mehrgenerationenhaus Mosbach will man mit dem neuen Projekt "Allianz Alpha" diesen Menschen helfen. Projektbeauftragte Julia Winter erläutert im RNZ-Gespräch zum Weltalphabetisierungstag unter anderem, wie diese Hilfe aussehen soll.
Rund 14 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland sind faktisch Analphabeten. Das klingt erschreckend für ein so weit entwickeltes Land, für das Land der Dichter und Denker …
Das ist es in der Tat. Als ich zum ersten Mal die Zahlen sah, war ich auch sehr überrascht. Laut der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Leo-Level-One-Studie (2011) haben 14,5 Prozent der Deutschen Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. Wir reden also von rund 7,5 Mio. funktionalen Analphabeten, darunter circa eine Million in Baden-Württemberg.
Ab wann zählt man denn als funktionaler Analphabet?
Von funktionalem Analphabetismus spricht man, wenn jemand zwar einzelne Wörter lesen und schreiben kann, jedoch Defizite beim Satz- und/oder Textverständnis hat. Die Ausprägungen sind unterschiedlich stark und werden nach der Studie in vier sogenannte Alpha-Level eingeteilt. Diese reichen vom nicht Erreichen der "Wortebene" (Level 1) bis zum "fehlerhaften Schreiben auf Textebene" (Level 4), bei der der Sinn des Textes zwar verstanden wird, die Rechtschreibung aber sehr viele Fehler aufweist.
Was bedeutet das im Alltag?
Für die Betroffenen werden schriftsprachliche Situationen im Beruf und Alltag zur großen Herausforderung. Verträge, Arbeitsanweisungen, E-Mails, all das was in unserer heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken ist. Betroffene entwickeln daher kreative Vermeidungsstrategien, mit deren Hilfe sie ihre eigentlichen Probleme verschleiern.
Wenn man die Studienzahlen herunterbricht, müsste es auch in Mosbach Hunderte Analphabeten geben...
In Mosbach gibt es rund 14.000 Erwerbsfähige, also Menschen zwischen 18 und 65 Jahren (Stand 2016). Legt man die Zahlen der Studie zu Grunde, würde es bei uns also rund 2000 Menschen geben, die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind.
Das sind viele ...
Da mehr als die Hälfte aller Betroffenen, so ein weiteres Ergebnis der Studie, berufstätig ist, ist das Problem meist nicht offensichtlich. Wie bereits erwähnt, entwickeln Menschen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben geschickte Strategien, um nicht "aufzufallen".
Und mit dem neuen Projekt des Mehrgenerationenhauses will man nun genau an diese Menschen herankommen? Wie soll das funktionieren?
Da wir mit diesem Projekt noch ganz am Anfang stehen, gilt es zunächst ein Netzwerk zu bilden, Aufklärung zu betreiben und die Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren. Wir wollen eine Anlaufstelle werden, die unterstützt und vermittelt. Das MGH Mosbach wird Schulungen, Vorträge und Seminare rund um das Thema anbieten, die sich unter anderem mit den Fragen beschäftigen "Wie erkenne ich Betroffene? Wie spreche ich sie an? Welche Hilfsangebote gibt es?"
Was dürfte die größte Hürde werden? Scham? Angst? Furcht vor Ausgrenzungen?
Wohl alles zu gleichen Teilen. Daher sollen die Angebote eben möglichst niederschwellig sein.
Welche Maßnahmen sind konkret geplant? Und welche Ziele hat man sich im Mehrgenerationenhaus für das neue Projekt selbst gesetzt?
Es werden sogenannte Sensibilisierungsworkshops angeboten, die sich mit den oben genannten Fragestellungen beschäftigen. In den nächsten Monaten wird auch das Alpha-Mobil als Infostand rund um das Thema in Mosbach zu finden sein. Im April 2019 wird ein Kinderbuchautor und ehemaliger Analphabet in der Stadt zu Gast sein und über seinen Lebensweg referieren. Auch wollen wir mit Lesepaten zusammenarbeiten, im MGH eine Leicht-Lese-Ecke einrichten. Unser Ziel ist es, durch Öffentlichkeitsarbeit so viele Menschen wie möglich zu erreichen, zu sensibilisieren und das Thema Analphabetismus zu enttabuisieren.
Info: Weitere Infos zum Projekt Alpha: E-Mail: mgh-mosbach@t-online.de, Telefon 06261/6744010.