Das Heidelberger Landgericht. Archiv-Foto: Dorn
Von Alexander Albrecht
Heidelberg/Wiesloch. "Ui", schnaubt Uwe Siegrist gegen Ende seines Plädoyers. Dass den Ermittlungen zufolge eine "rechtswidrig handelnde" Behörde auf Profit aus war, Anträge ungeprüft und "industriemäßig" bearbeitete, windige Geschäfte dubioser Dienstleister aus der ganzen Republik erleichterte, Mengenrabatte gewährte statt gesetzlich vorgeschriebene Gebühren zu berechnen und auf Beschwerden übergeordneter Stellen, von Polizei und Bürgern nicht reagierte - all das hat auch der erfahrene Wirtschaftsstaatsanwalt noch nicht erlebt. Die Beobachter kommen kaum hinterher, die von Siegrist am Donnerstagmorgen aufgezählten Verfehlungen der Kfz-Zulassungsstelle des Rhein-Neckar-Kreises in Wiesloch zwischen 2011 und 2014 im Schreibblock zu notieren.
Dabei sitzen in dem Prozess vor dem Landgericht Heidelberg (noch) keine Behördenvertreter auf der Anklagebank, sondern vier Männer aus Berlin und Eberswalde. Drei Betreiber privater Kfz-Zulassungsdienste und ihr auf Provision arbeitender Helfer. Gewerbs- und bandenmäßig, wie es im Juristendeutsch heißt, sollen die Vier durch gefälschte Unterschriften von im Ausland lebenden Personen Hunderte Kennzeichen ohne Bedarf in Wiesloch geordert haben. Und das sei in dem gesamten Verfahren "nur die Spitze des Eisbergs", so Siegrist.
Die bis zu 30-köpfige "Briefgruppe" in der Zulassungsstelle soll sich mit einer E-Mail und den eingescannten Ausweiskopien der angeblichen Antragssteller begnügt haben. Ein Novum unter den circa 400 Kfz-Behörden in Deutschland. Namen, Anschriften und Dokumente der ahnungslosen Menschen stammten aus einem "Adressenpool", den ein in Heidelberg lebender Unternehmer mit mehreren Briefkastenfirmen in Walldorf verwaltete.
Er ist der Hauptprofiteur in dem Betrug mit den lediglich fünf Tage gültigen Kennzeichen, die zur Überführung, für Probefahrten sowie zur Vorführung beim TÜV gedacht sind. Tausende HD04-Schilder erstand der Mann monatlich bei der Zulassungsstelle - statt den üblichen 10,20 Euro pro Stück zahlte er lediglich die Hälfte. Mutmaßlich eingefädelt hatten den Deal mit ihm zwei frühere Führungskräfte der Behörde.
Aktuell arbeitet die Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Mannheim an der Anklage gegen die beiden Frauen und den Heidelberger Geschäftsmann. Letzterer war es auch, der über ein von ihm in der Zulassungsstelle eingerichtetes, elektronisches Kundensystem (KIM) bestimmte, welche Dienstleister mitmischen durften. 30 sollen es in der Spitze gewesen sein, mit denen der Heidelberger in monatlichen Sammelbescheiden abrechnete (siehe Grafik). Ein großer Reibach. Allein im Jahr 2013 soll der Unternehmer mit dem Schilderhandel rund 2,6 Millionen Euro eingenommen haben.
Weil die angeblichen Antragssteller im Ausland wohnten, schaltete der Großdienstleister einen Mittelsmann ein, der seinen Firmensitz im Raum Wiesloch/Walldorf hat, gegenüber der Behörde als Bevollmächtigter auftrat und den Versand der Kennzeichen übernahm. Die "Briefgruppe" hatte die Schilder zuvor in Gitterboxen verpackt. Auch deshalb geht Siegrist nicht davon aus, dass die Mitarbeiter "gutgläubig" gehandelt haben, sondern in das "Betrugssystem" involviert waren.
Zumal für die betroffenen Ausländer jeweils mehrere Anträge auf Kurzzeitkennzeichen gestellt worden waren, in manchen Fällen sogar über hundert. "Erlaubt" war ein Schild pro Person täglich. Menschen, die Strafzettel aus Deutschland kassierten, weil die tatsächlichen Halter mit den Autos Verkehrsverstöße oder Straftaten begingen, beschwerten sich. Als der Betrug aufflog, wurde in der Zulassungsstelle eine Sperrliste angelegt mit Namen aus dem "Adressenpool". Mehr aber auch nicht.
Laut Siegrist hatten sich zwischenzeitlich Zulassungsstellen aus dem Bundesgebiet, Polizeidienststellen und auch das Regierungspräsidium Karlsruhe über die laxe Ausgabepraxis in Wiesloch beklagt - und waren damit bei der Behörde des Rhein-Neckar-Kreises "ins Leere gelaufen". Die von den Angeklagten bestellten Kennzeichen landeten in drei Berliner Büro-Containern nahe der dortigen Zulassungsstelle und wurden für 100 bis 130 Euro an die Endkunden weiterverkauft - die lieber für teures Geld den schnellen Service privater Dienste in Anspruch nahmen, als in der Behörde stundenlang in der Schlange zu stehen. Da die vier Angeklagten die Vorwürfe gegen sie umfassend eingeräumt und gestanden hatten, zwischen 2011 und 2014 insgesamt mehr als 900 Anträge mit gefälschten Unterschriften eingereicht zu haben, greift nun ein von den Prozessbeteiligten geschlossener Deal.
Für einen Eberswalder Dienstleister beantragt Siegrist eine zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Der Mann ist hochverschuldet, sein Unternehmen schreibt seit Jahren Verluste. Die durch den Betrug erzielten und von den Behörden eingezogenen knapp 55.000 Euro soll er dennoch nicht zurückbekommen. Sein Sohn soll eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und acht Monaten erhalten. Er war bereits 2012 in einen Betrug mit Kurzzeitkennzeichen verwickelt. Ein stattliches Vorstrafenregister hat ein dritter Angeklagter. Nachdem der Gesetzgeber im Frühjahr 2015 die Fahrzeugzulassungsverordnung wegen der Vorgänge in Wiesloch verschärfte, machte der laut Siegrist "mittellose" Dienstleister einfach weiter und verkaufte Schilder mit gefälschten Unterschriften und ohne Versicherungsschutz.
Dafür wurde er vom Landgericht Berlin zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Weil die Haftstrafe noch nicht ganz verbüßt ist und eingerechnet werden muss, plädiert Siegrist auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten - ohne Bewährung. Die soll dagegen dem nicht vorbestraften Helfer bei einer eineinhalbjährigen Freiheitsstrafe zugebilligt werden. Die Verteidiger forderten niedrigere Bewährungsstrafen. Das Urteil wird am 26. September verkündet.