Heute ist die Berliner Mauer (oder was davon übrig geblieben ist) ein Anziehungspunkt für Touristen – für kritische DDR-Bürger war sie meist ein unüberwindbares Hindernis. Dennoch gelang Zehntausenden trotz Erniedrigungen die Flucht in den Westen. Foto: Gambarini
Von Alexander Albrecht
Mannheim. Für die Freiheit und den Traum von einem besseren Leben haben viele Republikflüchtlinge und Übersiedler aus der DDR zwischen Mauerbau und -fall einen hohen Preis bezahlt. Sie wurden zwischen 1961 und 1989 im Osten wegen ihrer kritischen Haltung zum sozialistischen Regime schikaniert, zum Teil jahrelang in eine der berüchtigten Haftanstalten gesteckt, von der Stasi erniedrigt und verloren ihren Job. Doch die Menschen ließen sich davon nicht unterkriegen – und schafften es noch vor der Wende in den Westen.
Ausgerechnet nach der friedlichen Revolution und dem Ende der Teilung kam für die mehr als 300.000 Betroffenen das böse Erwachen. Die Bundesrepublik hatte ihnen ein Versprechen gegeben: Übersiedler aus der DDR werden in der gesetzlichen Rentenversicherung so behandelt, als ob sie ihr ganzes Erwerbsleben in der Bundesrepublik zurückgelegt hätten. Grundlage war das sogenannte Fremdrentengesetz. Danach sollte zum Beispiel eine Krankenschwester ihrer festangestellten Kollegin aus dem Westen gleichgestellt werden, wenn sie in Rente geht. So stand es Schwarz auf Weiß in den Bescheiden.
Dann fiel am 9. November 1989 die Mauer. Viele DDR-Bürger siedelten über und hätten automatisch Ansprüche aus dem Fremdrentengesetz gehabt – mit gravierenden Folgen für die Rentenkassen. Deshalb verabschiedete die Bundesregierung ein Überleitungsgesetz, das später ergänzt wurde. Danach galt für Ostdeutsche ab dem Geburtsjahr 1937 die alte DDR-Versicherungsbiografie, also auch für die einstigen Republikflüchtlinge. Entsprechend sind ihre Rentenansprüche niedriger, in manchen Fällen geht es um mehrere Hundert Euro im Monat.
Übersiedler aus Polen erhalten ihre Altersbezüge dagegen weiter aus dem Fremdrentengesetz, ein deutsch-polnisches Abkommen schützt ihre Ansprüche. Gegen die Ungleichbehandlung wehrt sich die Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge, der 200 Mitglieder starke Verein hat seinen Sitz in Mannheim. Vorsitzender ist Jürgen Holdefleiß, ein 80-jähriger promovierter Ingenieur im Ruhestand. Er und seine Frau hatten bis 1988 im thüringischen Nordhausen am Harz und nahe der deutsch-deutschen Grenze gelebt.
Die Gattin stellte wegen des runden Geburtstags einer Tante im Westen eine Ausreisegenehmigung, Jürgen Holdefleiß suchte sich eine Verwandte in der Bundesrepublik aus und stellte ebenfalls einen Antrag. "Wir konnten kaum glauben, dass beides bewilligt wurde", erinnert er sich. Das Paar kommt nicht mehr nach Nordhausen zurück, wovon die drei erwachsenen Töchter zunächst nicht unbedingt begeistert sind. Als das Paar an der Familienzusammenführung arbeitet, überschlagen sich die Ereignisse in der DDR – und es geht alles viel schneller als gedacht.
Jürgen Holdefleiß mit Bundespräsident Steinmeier im Schloss Bellevue. Foto: zgDie Eheleute haben auch an anderer Stelle Glück und finden in der Kurpfalz schnell gut bezahlte Jobs als Niederlassungsleiter einer Baufirma beziehungsweise als Medizinisch-Technische-Angestellte (MTA). Weil Jürgen Holdefleiß ein kurzes rechtliches Zeitfenster ausgenutzt hat, kommt er zudem in den Genuss einer "BRD-Rente".
Er kämpft deshalb nicht für sich, sondern für andere. "Menschen, denen es bis heute wirklich schlecht geht", weiß der Vereinsvorsitzende. Es gebe nicht wenige, die in der DDR ebenfalls in qualifizierten Berufen schufteten, aber, nachdem sie sich durch das Stellen eines Ausreiseantrags offen als "Verräter" und "Gegner des Sozialismus" geoutet hätten, ihre Anstellung verloren und sich mit Niedriglohnjobs über Wasser halten mussten. "Aufgrund des langen Wartens auf eine Ausreisegenehmigung sind ihnen viele rentenwirksame Jahre flötengegangen", erklärt Holdefleiß: "Ihre widerständige Haltung ist den Betroffenen nach der Einheit zum Verhängnis geworden."
Hartnäckig engagiert sich die Interessengemeinschaft für ihre Klientel – doch bislang erfolglos. Das Bundessozialgericht hat die geltende Rechtslage bestätigt, das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde nicht mal zur Entscheidung angenommen. Die SPD im Bundestag unterstützte mal den Verein, scheiterte aber am Veto der damaligen Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU), verweigerte der Linken aber später die Gefolgschaft, als die einen von den Genossen wörtlich übernommenen Antrag einbrachte.
Womöglich die letzte Chance ist eine vor zwei Jahren gestellte Petition. "Wenn sich unser Anwalt im Bundestag danach erkundigt, wird immer um Geduld gebeten", ärgert sich Holdefleiß. Manchmal komme es ihm so vor, als würden die Betroffenen so lange hingehalten, bis sie nicht mehr da sind. Bei einem Empfang vor zwei Jahren hat er die Petition auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorgestellt. Der ist allerdings nicht zuständig.
Doch Holdefleiß gibt nicht auf und schreibt Briefe, viele Briefe an die ostdeutsche Kanzlerin. Die hat ausrichten lassen, aufgrund ihrer Verpflichtungen und vieler Termine keine Zeit für den Besuch einer Delegation ehemaliger DDR-Flüchtlinge zu haben. Bei allem Frust: Mauerfall und Wiedervereinigung sind für Holdefleiß ein Segen. "Wir waren damals ganz besoffen vor Freude – auch ohne Alkohol."