Von Harald Berlinghof
Mannheim. Das Gelände in der Neckarauer Luisenstraße mit der Hausnummer 8 wird seit dem Mittelalter von Menschen genutzt – mindestens. Als der Besitzer die aus dem 19. Jahrhundert stammende, marode und nicht unter Denkmalschutz stehende Bebauung abreißen ließ, weil er dort ein Altenheim mit betreutem Wohnen errichten lassen will, wurden zunächst die Untere Denkmalbehörde der Stadt Mannheim und dann auch die Reiss-Engelhorn-Museen aufmerksam. Und in der Folge das Landesamt für Denkmalpflege, angesiedelt in Stuttgart mit Außenstelle in Karlsruhe.
Schnell wurde klar, dass die Sicherung und Archivierung des 900 Quadratmeter großen Geländes nicht von der archäologischen Abteilung der Reiss-Engelhorn-Museen und den Ämtern allein gestemmt werden konnte. Das Landesamt für Denkmalpflege nahm deshalb die Grabungsfirma Fodilus GmbH mit ins Boot, die mittlerweile seit dem 17. August das im Boden vergrabene Kulturdenkmal mit vier bis fünf Mitarbeitern täglich bearbeitet.
Die ältesten Funde stammen schätzungsweise aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Aus anderen Grabungs-Sichtungen kann man schließen, dass in der Zeit vor dem 19. Jahrhundert, vermutlich im 16. Jahrhundert, an dieser Stelle sogenannte Pfostenständer-Häuser in einer Fachwerkbauweise mit Lehmwänden standen. Es gab kein Steinfundament, die Häuser wurden von dicken, in den Erdboden gerammten Stämmen getragen.
Aus der Kachel schließt man, dass es einen Kachelofen gab, und daraus wiederum, dass es eine gute Stube gab, die geheizt wurde. "So entwickelt sich aus den Funden ein Bild der Lebenssituation der Menschen von damals", betont Klaus Wirth von den Reiss-Engelhorn-Museen die Bedeutung der Funde selbst und vor allem ihres Fundzusammenhangs. Darin liegt auch der historische Wert unscheinbarer Scherben oder verkohlter Holzreste. Letztere fand man und schließt daraus auf einen Brand, der die Gebäude beschädigte oder gar vernichtete.
Bevor der Bau des Seniorenheims beginnen kann, wird auf dem Gelände erst mit schwerem Gerät und dann ganz vorsichtig nach Siedlungsspuren gesucht. Foto: Proßwitz"Die Katastrophe für die Menschen von damals entpuppt sich heute als Glücksfall für die Archäologie", sagt Sascha Schmidt. Die Funde werden ins zentrale Fundarchiv in Rastatt gebracht. Das meiste bisher Gefundene sei nicht museal als Ausstellungsstück geeignet, erklärt Damminger.
Finanzieren muss die Grabung der Investor. In Baden-Württemberg sei die Obergrenze der Kosten aber bei sieben bis acht Prozent der Investitionssumme gedeckelt, so Sascha Schmidt von Fodilus. "Das ist gewissermaßen eine Ausgleichsmaßnahme für die Zerstörung eines Kulturdenkmals, das sich im Erdboden befindet", erläutert Folke Damminger vom Landesamt für Denkmalpflege. Als "rappelvoll mit Funden" bezeichnet er das Gelände. Es sei die größte und bedeutendste Fundstelle, die gegenwärtig im Stadtteil Neckarau bearbeitet werde.
Gold, Münzen oder andere materiell wertvolle Stücke habe man bislang nicht gefunden, erklärt Doris Schuller, die Projektleiterin von Fodilus. Münzen sind nämlich hervorragende Datierungsobjekte. Aber auch, was für Laien nur zerbrochene Scherben sind, beginnt zu Experten zu sprechen.
In den zwei entdeckten Brunnen, die um 1900 verfüllt wurden, weil sie nicht mehr benutzt wurden, und in den Kellern des Wohnhauses sowie dem Bewirtschaftungsgebäude hat man Tintenfläschchen, Glasflaschen und vier zerbrochene, sogenannte Nachgeburtstöpfe gefunden. Das sind ehemalige Kochtöpfe, innen glasiert mit drei Füßen und mit Deckel, in die aus Aberglaube die Nachgeburten gegeben wurden, bevor man sie im Keller vergrub.
Damit wollte man die Geister bannen, die vermeintlich dem Säugling oder der Mutter Böses antun wollten. Ein spannendes, kleines Objekt aus Bein (Knochen) mit einer Gravierung in Form eines Rundauges kam ebenfalls zum Vorschein.
In einem aufgegebenen Brunnen aus der Zeit um 1900 wurde eine zerbrochene Kachel von Villeroy und Boch gefunden. Ihre Gestaltung gibt stilkritische Auskunft über ihre Entstehungszeit. "Naturwissenschaftliche C14-Datierungen wären teuer", sagt Schuller. Eher komme eine dendrobiologische Datierung in Betracht, falls man ein gut erhaltenes Holzstück mit Wachstumsringen finden würde.