Von Hans Böhringer
Heidelberg. Um 10 Uhr ist Unterrichtsbeginn. Frau Berger schaut, ob alle 23 Schüler da sind: Ein paar fehlen noch. Dann geht es los – "Guten Morgen", tippt Frau Berger. Das Klassenzimmer ist virtuell. Die Schüler sitzen zu Hause. Frau Berger auch. Sie kommunizieren über Textnachrichten. So beginnt am Montag die zweite digitale Schulwoche am Heidelberg College. Was vor kurzem noch Bildungsvision war, ist mit der Schulschließung nun erzwungenermaßen Realität überall in Deutschland. Die plötzliche Umstellung ist eine riesige Aufgabe – für Schüler, für Lehrer, für die Technik.
Die Biologielehrerin Lydia Berger berichtet hinterher, gelegentlich hätten Schüler die Verbindung verloren, ansonsten sei der erste Unterricht per Live-Textnachrichten gut gegangen. Nach dem ganzen Organisatorischen wäre sie sogar zu einer Abfrage der Evolutionsbiologie gekommen. "Es geht nicht darum, der Schnellste bei Wikipedia zu sein", habe sie ihren Schülern geschrieben – und einen Haufen Smileys zurückbekommen.
Dass die Schüler den Lehrern in Medienkompetenz überlegen sind, ist ein Klischee. Kann sich das mit der Krise ändern? "Es ist ein Erfolgszeichen, wenn es Schulen überhaupt schaffen, auf die Schließung zu reagieren", sagt Marco Kalz, Professor für Mediendidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er scheint trotz Krise in Aufbruchsstimmung zu sein: "Ich denke, dass wir einen riesigen Sprung machen, da Lehrer, die vorher nie daran gedacht hätten, sich nun mit Digitalem beschäftigen müssen." Bisher habe das Digitale an der Schule als nettes Extra gegolten, sagt er: "Jetzt sehen wir, wie fundamental das ist." Manche Schulen, sagt er, seien viel weiter als andere.
Während andere Schulen sich mit E-Mail-Verteilern begnügen, implementiert das Heidelberg College die Lernplattform "Moodle" schon lange – das Privatgymnasium wurde als erste Schule Heidelbergs als "digitale Schule" ausgezeichnet. Auf "Moodle" können Lehrer Online-Kurse erstellen, sozusagen virtuelle Klassenzimmer, und Aufgaben und Videos hochladen oder Unterhaltungen mit ihren Schülern führen. Vor der Corona-Krise habe etwa ein Viertel der Lehrkräfte die Plattform verwendet, erklärt Matthias Groitzsch, der stellvertretende Schulleiter. Ende der zweiten Märzwoche, als die Schulschließung feststand, habe man die anderen im "Hauruckverfahren" einweisen müssen. "Es ist kein Geheimnis, dass sich manche Lehrer schwerer mit technischen Dingen tun", meint Groitzsch. Umso glücklicher ist er darüber, dass die Schule ein paar "Pioniere" des digitalen Unterrichts habe.
Über die Zuschreibung, eine "Pionierin" zu sein, lacht die Mathelehrerin Hanna Wießner. Sie sei wohl jünger und damit ein wenig digital versierter als die älteren Kollegen, meint sie. Für die Unterstufe dreht Wießner kurze Erklärvideos; für die Mittelstufe gibt es Aufgaben, die online einzusehen sind. Allein die Oberstufe unterrichtet sie in einer Videokonferenz. Das liege zum einen an der begrenzten Belastbarkeit der Verbindung, zum andern an der besonders brisanten Lage dieser Schüler, erklärt Wießner: "Die Abiturienten hatten ein bisschen Panik, als es plötzlich keine Schule mehr gab."
In der Not neigen Lehrer zum Experimentieren: Andre Kesselring löst auf "Twitch" mit seinen Schülern Matheaufgaben, um sie auf das Abitur vorzubereiten. "Twitch" ermöglicht, Heimvideos live zu übertragen, hauptsächlich nutzen Jugendliche diese Plattform, um "Gamern" bei Videospielen zuzusehen. Kesselring ist Mathelehrer am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Eppelheim, statt am Lehrertisch unterrichtet er nun von seiner Neuenheimer Wohnung aus: "Jetzt gibt es große Freiheiten für Lehrer", sagt er. Das Feedback der Schüler sei "absolut positiv", erklärt Kesselring, er sieht in dem digitalen Unterricht eine große Chance für die Zeit nach der Corona-Krise – als Ergänzung.
Die Experimentierfreude der Lehrer begrüßt Professor Kalz. Es sei jedoch problematisch, persönliche Daten achtlos an große Firmen weiterzugeben ("Twitch" gehört Amazon): "In der aktuellen Situation ist das zu entschuldigen." Für Kalz gibt es aber einen gravierenderen Dämpfer der Begeisterung: "Was mir Sorge bereitet, ist die soziale Schere, die wir realisieren. Wir gehen davon aus, dass die Infrastruktur zu Hause bei jedem verfügbar ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass das eine Fehlannahme ist." Nicht nur die Ausstattung, auch der Bildungshintergrund des Elternhauses sei entscheidend für die digitale Kompetenz des Kindes.
Am Heidelberg College hätten sie Glück, meint die Digitalisierungsbeauftragte Sarah Grimm-Sitt, alle Schüler seien mit Geräten ausgestattet. Sie sieht in dem digitalen Betrieb vor allem eine Chance für die Schüchternen: "Ich habe etwas von einer Schülerin gelesen, da war ich total positiv überrascht." Ähnliche Beobachtungen machte ihre Kollegin Lydia Berger. "Auch wenn die Krise vorbei ist, sollte man das Digitale mehr nutzen", meint sie. Aber sie stimmt mit ihren Kollegen überein: Das Lebendige, das Zwischenmenschliche könne man dadurch nicht ersetzen. Nach der ersten digitalen Biologiestunde hätten die Schüler den Wunsch geäußert, wieder "richtigen" Unterricht zu haben, erzählt Berger: "Der Lehrer scheint doch – Gott sei Dank – eine große Rolle zu spielen."