"Unsere ganze friedliche Stimmung hatte sich so plötzlich in Luft aufgelöst"
Ein fast völlig vergessenes Kapitel der Judenverfolgung: Die Polendeportation am 28. Oktober 1938 traf auch Heidelberger Familien

Die in Heidelberg ansässigen jüdischen Familien Weiner und Rubinstein wurden Ende Oktober 1938 nach Polen abgeschoben. Fotos: privat/Repro: Giovannini
Von Norbert Giovannini
Heidelberg. "Ich erinnere mich noch genau: Es war Donnerstagabend gegen 19 oder 20 Uhr, als mein lieber Vater gerade frisch gebackene kleine Neckarfische aß, die meine liebe Mutter so appetitlich zubereitete. Plötzlich klopfte es an unserer Haustür und zwei Gestapobeamte standen da; sie baten meinen Vater, mitzugehen. Weder ihm noch uns nannten sie den Grund der Festnahme oder das Ziel des Abtransports. Unsere ganze friedliche Stimmung hatte sich so plötzlich in Luft aufgelöst."
Die damals neunjährige Emma Sipper beschreibt den Abend des 28. Oktober. Sie ist eine der Töchter von Oskar und Salla Sipper, einer Neuenheimer Familie, die in der Schröderstraße 25 Möbel verkaufte und versteigerte. Das Ereignis, das ihr noch nach Jahrzehnten in den Knochen steckt, ist die Polendeportation 1938. 13 Tage vor der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November, die sich so wirkungsmächtig in das Gedächtnis von Zeitgenossen und Nachkommen eingeprägt hat. Die Ausweisung und Deportation von 17.000 polnischen Juden an die Grenze zu Polen ist dagegen kaum mehr präsent.
Die sogenannten Ostjuden wurden von fast allen geächtet
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert flohen russische und polnische Juden vor Pogromen und Armut, vor Verfolgung und Judenhass nach Westeuropa und versuchten ihr Glück im Exil. Sie waren "ungebetene Gäste", denen auch der liberale badische Staat notorisch die Einbürgerung verweigerte. Beschimpft und geächtet als Ostjuden, als Schtetl-Juden, hatten sie es doppelt schwer. Denn auch die liberale angestammte jüdische Gemeinschaft hielt Distanz. Sie waren traditionell und fromm, blieben unter sich und waren in Maßen integriert. Zugleich waren sie Opfer der gehässigen, antijüdischen Stereotypen. Wie auch in Österreich - vor und nach dem Ersten Weltkrieg - schlug ihnen Verachtung und unverhohlener Hass entgegen.
Im praktischen Leben waren sie tüchtig und kaufmännisch geschickt. Ihre Second-Hand-Geschäfte waren im Krieg, der Inflationszeit und der Weltwirtschaftskrise ein Segen für die weniger betuchte Bevölkerung. Preisgünstige Textilien, Möbel- und Lebensmittel waren Schwerpunkte ihrer Angebote. In der Heidelberger Altstadt, der Unteren Straße, aber auch in Neuenheim, Bergheim und Rohrbach boten "die Polnischen" Ware zu günstigen Preisen an und hatten einen guten Namen. "Einen Laden wie die Rubinsteins hätte man haben sollen", bekundete der Feuerwerker Kesselbach aus der Unteren Straße über seine Nachbarn, die Rubinsteins.
Seit der Jahrhundertwende hatten sich polnische Juden hier niedergelassen: die Geffners, Gottfrieds, Liebmanns, Rubinsteins und Weiners. Verwandtschaftlich eng verbunden, Geschwister und Verwandte vor allem aus den Gebieten der Bukowina, der heutigen Ukraine und aus dem 1919 wieder neu entstandenen Polen. Die Familienbilder zeigen stolze und selbstbewusste Menschen, ein mäßiger, aber solider Wohlstand ist Standard, nichts von Trödel- und Betteljuden. Die Kinder erhalten eine gute Ausbildung, besuchen die mittlere und höhere Schule, zuhause steht ein Klavier, und man bezahlt einen Lehrer, der Religionsunterricht gibt.
Die meisten blieben polnisch ohne Chance auf Einbürgerung, wenn sie nicht gar in den allerunglücklichsten Status der Staatenlosen gestoßen wurden. Seit 1933 war ihre Lage mehr und mehr prekär geworden. Schikanen und wirtschaftlicher Druck wuchsen. Kunden trauten sich nicht ins Geschäft. Mehr und mehr zehrte man von der Substanz. Über 100 Angehörige der polnisch-jüdischen Einwohner Heidelbergs ergriffen von 1933 bis 1938 die Flucht. Deutlicher als die mit Deutschland überstark identifizierten großbürgerlichen Juden spürten sie die Gefahr und Bedrohung, die in ihren kollektiven Biografien eingeschrieben waren. Flucht hieß damals wie heute, nahezu alles zurückzulassen - die Geschäfte, die Wohnungen, die man schnell und unter Wert verkaufen musste. Den Hausrat in Container gepackt, die selten ihr Ziel erreichten. Dazu ruinöse Steuern und Abgaben, die vollends in die Armut führten. Mehr als die Hälfte floh in die USA, unter ihnen zahlreiche Angehörige der Familien Weiner aus der Plöck, die Geffners und Liebmanns aus der Unteren Straße und die Gottfrieds aus der Hauptstraße. Elf anderen Angehörigen der Weiners, den Simons und Grisaks, gelang die Ausreise nach Palästina.
Dramatisch wurde es 1938, nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs. Brutale antisemitische Attacken trieben dort Unzählige in die Flucht. Aber wohin? Die polnische Regierung wollte unbedingt die "Heimkehr" abertausender verarmter polnischer Juden verhindern. Im Oktober 1938 verlangte sie, dass sich alle Auslandspolen auf den Konsulaten melden mussten. Wer keinen Eintrag in den Pass bekam, dem sollte Polen verschlossen bleiben, ja sogar die Staatsangehörigkeit entzogen werden. Die Berliner Regierung reagierte sofort. Diesen "Klumpen von 40 bis 50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden", wie es Staatssekretär Ernst von Weizsäcker ausdrückte, wollte man sofort loswerden. Ende Oktober ließen die beiden obersten SS-Führer Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich kurzerhand 17.000 polnische Männer, Frauen und Kinder an die Grenze zu Polen schaffen. Bei Zbaszyn (Bentschen), Chojnice (Konitz) in Pommern und Beuthen in Oberschlesien sammelten sich die verzweifelten Menschen, versuchten, ins polnische Inland zu gelangen. 8000 von ihnen mussten tage- und wochenlang unter desaströsen Bedingungen ausharren.

Die in Heidelberg ansässigen jüdischen Familien Weiner und Rubinstein wurden Ende Oktober 1938 nach Polen abgeschoben. Foto: privat/Repro: Giovannini
Aus Heidelberg (wie aus ganz Baden) wurden überwiegend "nur" die Männer deportiert, 37 Personen, darunter auch Vater und Sohn Rubinstein aus der Unteren Straße 31, der Möbelhändler Oskar Sipper aus Neuenheim, Rebekka und Heinrich Reinhold, die ein Textilgeschäft in der Dreikönigstraße hatten. Im Jahr darauf folgten Salla Sipper, Feiga Rubinstein und die Storchs aus Rohrbach.
Einige der Männer waren kurzzeitig zurückgekehrt, um Wohnung und Hausrat zu verkaufen. So auch der Möbelhändler Sipper, der als gebrochener Mann nach Hause kam. Die Sippers ließen vor der endgültigen Ausreise zwei der Kinder, Emma und Hermann, bei einer befreundeten Familie zurück, bis diese mit einem Kindertransport nach England reisen konnten. Ein bedrückender, tränenreicher und hoffnungsloser Abschied. In England dann noch Briefe der Eltern, voller Wiedersehenshoffnung. Den letzten 1942. Danach nichts mehr.
Auseinandergerissen wurden auch Bertha Brenner und ihre Töchter. Die 1905 geborene Lilli entkam nach England, ebenso ihre 1909 geborene Schwester Malja. Bertha und die Töchter Lora und Marie wurden im Oktober 1938 ausgewiesen und im Sommer 1942 erschossen. Hilde Brenner zog 1936 nach Mannheim um; sie wurde von dort 1940 nach Gurs und im August 1942 nach Auschwitz deportiert.
Nicht allen gelang die rettende Flucht
Am 10. November 1938, einen Tag nach der Pogromnacht, wurden in Heidelberg Wohnung und Geschäft der Rubinsteins verwüstet. Ebenso der gegenüberliegende Laden der schon geflohenen Geffners. Im August reiste Frau Rubinstein alleine nach Polen, fand Mann und Sohn und flüchtete mit ihnen kurz vor Kriegsausbruch nach Rumänien. Von dort gelangten sie in einer schier endlosen Flucht über Istanbul nach Palästina. Berl Rubinstein erlitt einen Schlaganfall und wurde von Frau und Sohn buchstäblich auf dem Rücken in die Freiheit geschleppt. Kurz nach der Ankunft in Palästina ist er einem zweiten Schlaganfall erlegen.
Hier geblieben waren alle jene, die am 28. Oktober nicht erfasst wurden. Sie erlebten die Wucht der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November.
Im Oktober 1940 wurden aus Heidelberg weitere 16 polnische oder staatenlose Juden in das Lager Gurs in Südfrankreich deportiert. Unter ihnen Salomon Goldscheider, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, die Friseurin Betty Snopek und das Ehepaar Jablonski, Inhaber der Hofmöbelfabrik Reiss (Ecke Hauptstraße/Bienenstraße), die in der Pogromnacht im November 1938 von der SA verwüstet wurde. Nur drei von ihnen überlebten. Fünf weitere wurden bis 1945 aus anderen Orten deportiert.
Nach dem Krieg zerrieben sich viele der Überlebenden in langwierigen und demütigenden Entschädigungsverfahren. Erst viele Jahrzehnte später knüpften sie wieder an alte Kontakte an. Max Rubinstein, Norman Geffner und Benno und Regina Lustmann und viele andere besuchten - eingeladen von der Stadt - den Ort, mit dem sie ambivalente, schreckliche, aber auch positive Erinnerungen verbanden. Sie begegneten alten Freunden. Und schlossen neue Freundschaften.