Gerade in der Corona-Krise verbringen viele zu viel Zeit im Internet – das kann zur Sucht werden. Foto: Uwe Röder/Fachstelle Sucht
Von Marion Gottlob
Heidelberg. Mit der Corona-Krise werden die Menschen sich verändern – aber wie? Es kann sein, dass es danach Gewinner und Verlierer geben wird: Menschen, die in der Isolation neue Chancen entdecken – und andere, die mit neuen Problemen, neuen Abhängigkeiten zu kämpfen haben. Eine ganz konkrete Gefahr besteht in der Sucht nach Online-Spielen, wie Prof. Katajun Lindenberg, bis vor kurzem an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und jetzt an der Universität Frankfurt, betont: "Es fehlen noch wissenschaftliche Daten, doch manche Menschen könnten in der Corona-Krise für Computer-Süchte mehr gefährdet sein als sonst."
Für die Abhängigkeit von Computerspielen gibt es Alarmzeichen. Ralf Krämer, Leiter der Fachstelle Sucht Heidelberg, kennt sie gut: "Die Betroffenen verlieren die Kontrolle über das eigene Verhalten. Es fällt ihnen immer schwerer, aufzuhören. Der Vorsatz, weniger Zeit online zu verbringen, wird gebrochen und aufgegeben. Kinder vernachlässigen Hausaufgaben und schwänzen die Schule, Erwachsene kümmern sich nicht mehr um Wohnung, Ernährung und Bewegung, sie haben weder für den Beruf, den Partner, die Kinder, Freunde oder andere Kontakte Zeit." Obwohl die Betroffenen die Folgen spüren, können sie sich von der Online-Welt nicht lösen – die Spiele werden wichtiger als die analoge, reale Welt.
So weit, so schlecht. Doch im Moment ist alles anders. Die Möglichkeiten in der realen Welt sind deutlich reduziert, in vielen Angelegenheiten ist man auf das Internet angewiesen. Schüler haben per Internet Kontakt zu Lehrern. Erwachsene treffen sich beruflich zu Videokonferenzen. Fast jeder informiert sich online über die Krise. Auch die Freizeit findet teilweise im Internet statt: Kinder wie Erwachsene pflegen mit Freunden und Bekannten über das Netz den Kontakt.
Deshalb sei es wichtig, sich selbst und Kindern klarzumachen: "Es gibt eine Zeit nach der Corona-Krise", fordert Lindenberg. Hilfreich sei eine Struktur für jeden Tag. "Meine Kinder und ich haben für jeden Tag einen Stundenplan mit Zeiten für Arbeit, Schule, Pausen, Freizeit und auch Online-Zeiten", berichtet die Professorin. Dabei sollte die Online-Zeit für Schule und Beruf nicht auf die Freizeit-Online-Zeit angerechnet werden – das wäre gegenüber den Kindern ungerecht. Und für Online-Kontakte zu Freunden und für Spiele könne man durchaus das Limit der Zeit im Netz erhöhen. "Aber immer mit dem Hinweis, dass nach der Krise wieder die normalen Regeln gelten sollen", so Lindenberg.
Für diese Planung sollte man sich genügend Zeit nehmen. Dann schützt die Struktur vor Hilflosigkeit und Gefühlen von Leere. "Wer viel Zeit zu Hause verbringt, kann eventuell ein Projekt umsetzen, zum Beispiel mit Kunst oder Musik", schlägt Lindenberg vor. Dabei können Infos aus dem Netz hilfreich sein.
Dr. Martina Kirsch von der Suchtberatung der Evangelischen Stadtmission hat für die RNZ-Anfrage bei einem befreundeten Suchtforscher in China angefragt, aber auch dort fehlen noch Erkenntnisse zum Online-Suchtverhalten. Sie sagt: "Ich kann mir vorstellen, dass nach dieser Krise Kinder, Jugendliche und Erwachsene eine große Sehnsucht nach der realen Welt haben, nach tatsächlichen Treffen mit Freunden, dem Training im Verein und dem Musizieren im Orchester."
Kirsch denkt aber auch noch an eine andere Spielsucht, nämlich nach Glücksspiel. Von einem Moment auf den anderen wurden Spielhallen und Treffpunkte mit Spiel-Automaten geschlossen. Auch Wett-Büros sind nicht mehr geöffnet. Es gibt ja gar keine Sport-Events mehr, auf die man wetten könnte. "Es ist ein weltweites Experiment mit einem harten Entzug", so Kirsch. Dabei sei ungewiss, ob die Betroffenen die Chance für ein anderes Leben nutzten oder auf Online-Angebote auswichen. "Wir werden es erst einige Zeit nach der Corona-Krise erkennen."
Info: Bei Suchtanzeichen sollte man Rat bei Experten suchen, etwa beim Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (kostenlose Hotline: 0800 / 7772244), der Fachstelle Sucht Heidelberg (06221 / 23432), dem Zentrum für Psychologische Psychotherapie der Uni (06221 / 547908) oder bei der Suchtberatung der Evangelischen Stadtmission (06221 / 149820).