Krebspatienten können "in Einzelfällen sehr schnell in die Rente rutschen"
Jürgen Walther, Leiter des Sozialdienstes am NCT, berät Krebspatienten immer häufiger in wirtschaftlichen Fragen

Jürgen Walther.
Foto: Philip Benjamin
Von Birgit Sommer
Jürgen Walther leitet den Sozialdienst am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Im letzten Jahr wurden dort 1786 Patienten beraten. In 40 Prozent der Fälle gehe es dabei um die wirtschaftliche Sicherung der Patienten, sagt er im RNZ-Gespräch.
Herr Walther, warum kann eine Krebserkrankung arm machen?
Bei langwierigem Krankheitsverlauf gehen die Einnahmen zurück, man bekommt das niedrigere Krankengeld, unter Umständen Arbeitslosengeld oder eine Erwerbsminderungsrente. Je nach familiären Verhältnissen ändert sich die Einkommenssituation oft dramatisch. Die Ausgaben steigen aber durch Zuzahlungen für Arzneimittel, Heilmittel, Fahrtkosten.
Wenn die Erwerbsfähigkeit bedroht ist, fordern die gesetzlichen Krankenkassen die Patienten auf, einen Reha-Antrag zu stellen. Was bedeutet das?
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Wenn der Kasse ein ärztliches Gutachten vorliegt, das auf eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit hinweist, kann sie auffordern, innerhalb von zehn Wochen einen Rehaantrag zu stellen. Wer sich nicht an die Frist hält, dem droht die Einstellung des Krankengeldes, unter Umständen der Verlust des Versicherungsschutzes. Das Verfahren beschreiben viele Patienten als sehr beängstigend. Es wird von den Krankenkassen immer früher eingesetzt, manchmal unmittelbar nach Ende der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber, also nach sechs Wochen und noch während der laufenden Akutbehandlung.
Wie lange müssen die Kassen eigentlich Krankengeld zahlen?
Krankengeld kann für dieselbe Erkrankung insgesamt 78 Wochen innerhalb von drei Jahren gezahlt werden. Wenn Erwerbsminderung droht, kann die Dauer verkürzt werden. Wir erleben, dass Menschen mit Krebserkrankungen sehr früh während der Akuttherapie zur Rehaantragstellung aufgefordert werden mit der Begründung, keine Zeit zur Wiederherstellung der Gesundheit zu versäumen. Dahinter steckt häufig das Motiv, den Krankengeldbezug zu verkürzen.
Dieser Reha-Antrag ist auch gleichzeitig ein Antrag auf Rente.
Wenn die Erwerbsfähigkeit durch die Rehamaßnahme nicht erhalten werden kann, besteht ab dem Zeitpunkt des Reha-Antrages ein Rentenanspruch, das heißt, Betroffene rutschen in die Rente, ob sie wollen oder nicht. Das kann in Einzelfällen sehr schnell gehen.
Sie nennen das eine Verrohung der Sitten durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens.
Das klingt sicher provokant, aber es beschreibt die negative Seite des Wettbewerbs im Gesundheitswesen. Leistungsträger müssen ihre Ausgaben senken, Einsparungen beim Krankengeld sind dazu eine Möglichkeit. Die Verantwortung sehe ich nicht nur bei den Krankenkassen; was wir in der Praxis erleben, ist das Ergebnis politisch gewollter Entscheidungen.
Wie viele der an Krebs Erkrankten kehren tatsächlich in den Beruf zurück?
Obwohl Krebs eigentlich als Erkrankung des Alters gilt, sind 40 bis 50 Prozent der Erkrankten noch im erwerbsfähigen Alter. 65 Prozent von ihnen kehren auch wieder in den Beruf zurück.
Kann man auch zeitlich befristet in Rente gehen und dann bei der Arbeit wieder einsteigen?
Wenn jemand eine befristete Rente erhält, weil zu erwarten ist, dass sich die gesundheitliche Situation wieder bessert, bleibt der Anspruch auf den Arbeitsplatz erhalten.
Alle anderen sind von Arbeitslosigkeit bedroht oder haben nur eine geringe Rente zu erwarten?
Krebspatienten haben ein höheres Risiko für Arbeitslosigkeit. Die Höhe einer Rente hängt vom eigenen Versicherungsverlauf ab. Sicher ist aber, dass das Niveau der Erwerbsminderungsrente seit dem Jahr 2000 stark gesunken ist: Sie ist im Rentenzugang von durchschnittlich 785 Euro pro Monat auf 625 Euro zurückgegangen.
Was genau ist die Erwerbsminderungsrente?
Sie steht einem zu, wenn das Leistungsvermögen aufgrund einer Erkrankung dauerhaft deutlich eingeschränkt ist. Wer weniger als drei Stunden am Tag arbeiten kann, hat Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente. Wer zwischen drei und sechs Stunden arbeiten kann, kann teilweise Erwerbsminderungsrente beziehen. Dauerhaft heißt: länger als ein halbes Jahr. Das ist bei Krebspatienten eigentlich fast immer der Fall, etwa 20 000 onkologische Patienten gehen pro Jahr in Erwerbsminderungsrente.
Wie hoch ist diese Rente dann?
Bei Fragen zur Rentenhöhe verweisen wir immer an die Beratung durch die Rentenversicherung. Grundsätzlich wird so gerechnet, als hätte man bis zum 62. Lebensjahr gearbeitet. Je nach Zeitpunkt des Renteneintritts kann es zu individuellen Abzügen kommen. Die Rentenversicherung nennt beispielhaft bei einem durchschnittlichen Einkommen (aktuell 35 000 Euro/Jahr) nach 30 Versicherungsjahren eine Rentenhöhe von 876 Euro. Das liegt unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze.