Von Sebastian Riemer
Heidelberg. 5. September 1945, der Krieg ist in Heidelberg seit 160 Tagen vorbei – und die erste Ausgabe der RNZ wird ausgeliefert. Was passierte damals in Heidelberg, was bewegte die Menschen? Ein Streifzug durch die ersten fünf Ausgaben der Zeitung.
> Die erste Kundgebung (1. Ausgabe, 5. September 1945): Gleich in der Erstausgabe berichtet RNZ-Herausgeber Hermann Knorr auf Seite 2 über ein Großereignis in Heidelberg: "Zum erstenmal seit 12 Jahren strömten Männer und Frauen Heidelbergs zu einer freien Versammlung in das Capitol, um die offizielle Wiedererrichtung der Gewerkschaften zu feiern." Der Andrang am von den Amerikanern beschlagnahmten Kino in der Bergheimer Straße war groß an diesem 26. August: "Lange vor Beginn staute sich die Menge am Eingang, nicht alle konnten Einlaß in den großen Saal finden, so wurde die Feier durch Lautsprecher in die weiteren Vorhallen übertragen." Das Stadtorchester spielte Beethoven – und Knorr gerät ins Schwärmen: "Wie aus kosmischen Weiten jauchzten die dramatischen Melodien dieses einzigartigen Genies aus unserem Volk den Hörern entgegen, sie entlockten die Lebensgefühle von Schönheit, Staunen und Kraft in den harrenden Menschen und schufen die würdige Bereitschaft in allen Herzen, die Feier in ihrer Bedeutung zu erfassen."
Nach einer Gedenkminute für "die ungezählten Todesopfer, die das mörderische System Hitlers verschlungen hatte", erinnerte KPD-Stadtrat Franz Böning daran, wie die führenden Heidelberger Gewerkschafter ein Jahr zuvor ins KZ Dachau verschleppt wurden. Nun stünden die Gewerkschaften wieder bereit, am Wiederaufbau mitzuwirken. Die "erste öffentliche Kundgebung nach 12 Jahren Nazi-Gewalt", so Knorr, war ein Erfolg: "Der Beifall zeugte von der warmen Dankbarkeit und dem lebendigen Verstehen, das alle Hörer erfasste."
> Der Heimkehrer (2. Ausgabe, 8. September 1945): Lokalredakteur Fritz Sartorius erzählt, wie er nach dem Krieg zurück nach Heidelberg kommt. Als er auf dem Weg sein Nachtlager auf der Treppe eines zerstörten Bahnhofs aufschlägt, hört er ein Gespräch zweier "Landser" mit, das ihn aufhorchen lässt: "Wenn Du nach Heidelberg kommst, bist Du in einer ganz andern Welt", sagt der eine. "Da leuchten abends hunderte von hellen Fenstern. Die Stadt sieht aus wie im Frieden. Heidelberg ist wohl die einzige Großstadt, die noch heil ist. Bloß die Brücken sind alle gesprengt." Dass die Alte Brücke nicht mehr steht, schmerzt Sartorius besonders. Aber als er ankommt in Heidelberg, quellt sein Herz über:
Über dem Heiligenberg buntet ein goldener Abend. Im Handschuhsheimer Park gegenüber der Tiefburg sind hunderte von Tomatenkisten angefahren. Es sind die ersten Tomaten, die ich in diesem Jahr sehe, und auf einem Schild steht "Kleinverkauf". Da fällt mir ein, daß ich seit gestern nichts mehr gegessen habe. Rasch zähle ich mein Geld. Es sind noch 32 Pfennig. Vielleicht langen sie für ein Pfund. "Son klaane Klaaverkaaf hawwe mer net!", sagt eine derb-fröhliche Frau. "Hier kaafe nor Klaahändler." Aber gleichzeitig langt sie in ein Kistchen und streckt mir vier rotschimmernde Früchte entgegen. "Ihr Geld könne se wegstecke. Die könne se sooo hawwe!" Das ist das Herz der Heimat.
> KZ-Überlebende in der Stadthalle (3. Ausgabe, 12. September 1945): Es muss eine erschütternde Veranstaltung gewesen sein, über die RNZ-Mitherausgeber Rudolf Agricola schreibt. Im großen Saal der Stadthalle sprechen an einem Sonntagvormittag Überlebende der Konzentrationslager. Fritz Rimmler schildert die Leiden eines Mitgefangenen in Dachau, "den SS-Leute in einen Betonbehälter setzten, die Füße mit Steinen beschwert, und ihn langsam zu Tode quälten". Arthur Fuld beschreibt die Ankunft eines Transports in einem Viehwagen im KZ Theresienstadt: "256 Tote wurden aus den Wagen herausgeholt, der Rest der Insassen war wahnsinnig oder krank." Und auch ein Auschwitz-Überlebender spricht an diesem Sonntag: Albert Badewitz, der 20 Jahre später Zeuge im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess ist: "Rollwagen mit blutbefleckten Leichen fuhren die Lagerstraße entlang und am Ende des Weges spielte eine Musikkapelle den Schlager: ,Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein’." Agricola resümiert:
Tiefes Entsetzen und Erschütterung liegt über der gesamten Versammlung. Man fühlt, all das, was Menschenantlitz trägt, ist bewegt; Traurigkeit, Scham und Schuldgefühl wühlen in jeder Brust.
> Schlechte Kunst in der Hauptstraße (4. Ausgabe, 15. September 1945): Dass Heidelberg im Krieg fast gänzlich unzerstört blieb, ist für viele Heidelberger ein Wunder. Einen RNZ-Autor mit dem Kürzel "rt" treibt dieses Wunder zu einer bemerkenswerten Klage. Unter dem Titel "Die Bildchenmalerei" schreibt er: "Die Schaufenster sind zu groß in Heidelberg. Ein Mangel, wenn man keine Ware hat." Da seien die Läden in den zerstörten Städten besser dran, die selbst gezimmerte kleine Schaukästen in ihre zersplitterten Fenster stellen: So fiele dort weniger auf, dass es kaum etwas zu kaufen gebe. "Was aber in die großzügige Weite der Hauptstraßen-Auslagen geben?" Viele Geschäftsleute, so der Autor, würden nun einen "Konjunkturartikel erster Güte" ausstellen und verkaufen: "Bildchen. Gemalte Bildchen. Ansichten von Heidelberg mit Schloß und ohne Schloß, mit Brücke und ohne Brücke." Was dann folgt, ist eine Suada erster Güte:
Gut gemalt und schlecht gemalt, oh, so schlecht gemalt, so beschämend schlecht gemalt. Jeder Hans und Franz, jede Liselotte und Gerda, die auf der Schule gelernt haben, was ein Tuschkasten ist, malen jetzt Bildchen. Und sie malen es nicht nur, nein, es wird auf der Hauptstraße, der Repräsentationsstraße, zur Schau gestellt. In erlesenen, herrlichen Schaufenstern, um die jede Galerie vor Neid erblassen könnte. Ich könnte mir denken, daß ein wirklicher Maler sich geniert, seine Sachen in einem dieser Geschäfte auszustellen.
> Die große Wohnungsnot (5. Ausgabe, 19. September 1945): Mindestens 4000 Wohnungen fehlen in der Stadt, schreibt KPD-Stadtrat Franz Böning, Mitglied der neuen Wohnungskommission. Familien campen im Freien am Stadtrand. Jeden Tag stellen 120 Menschen einen Antrag auf Zuzug, rund 40 davon werden genehmigt. Aber: "Es kann ohne weiteres angenommen werden, daß die Abgelehnten ebenfalls illegal irgendwie Unterkunft finden." Deshalb macht Böning im Namen der Kommission ganz deutlich, "daß sie es für die sittliche Pflicht eines jeden Bürgers hält und daß darüber hinaus es ein Gebot der nackten Selbsterhaltung ist, wenn jeder sich bewußt wird, daß der Wohnungsstandard, den der Einzelne bisher beanspruchte, unter keinen Umständen in dieser Notzeit aufrecht erhalten werden kann und jeder mit einschneidenden Einschränkungen, bei dem ihm in Zukunft zur Vertilgung stehenden Wohnraum rechnen maß".
Im Klartext: Ein Paar habe Anrecht auf ein Zimmer, eine drei- oder vierköpfige Familie auf zwei. Und Böning ist nicht bereit, wehleidiges Gejammer zu akzeptieren: "Die Nazi-Presse hat täglich die Deutschen auf die Folgen aufmerksam gemacht, die sie im Fall einer Niederlage durch den Feind zu erleiden hätten: Hunger und Chaos, Mord und Deportation, Sterilisierung der Männer und Frauen, Zwangsarbeit und Verschickung nach Sibirien waren das Mindeste." Und heute würde nun gejammert über den "Terror", sich in seinem Wohnraum einschränken oder ein Möbelstück abgeben zu müssen. Diese Opfer müsse man in Kauf nehmen, "als Auswirkung einer gewissenlosen und verbrecherischen Politik".