Dr. Marius Golgath. Foto: Biener-Drews
Von Jutta Biener-Drews
Eberbach. Bäckermeister Konrad Beisel, der 1720 in die Neue Welt auswanderte und 1732 in Pennsylvanien Kloster Ephrata gründete, ist vermutlich der bekannteste Eberbacher Auswanderer am Ort. Über 150 Jahre später wagten die Eberbacher Jugendfreunde Karl Krauth und Ferdinand Leutz den Sprung über den Großen Teich und gründeten 1883 in Nord-Dakota die Siedlung Hebron. Hier, am damaligen Endpunkt der im Bau befindlichen Bahnlinie zwischen Chicago und dem Pazifik, betrieben die beiden zunächst einen Laden, in dem sich Bahnarbeiter, Siedler, aber auch Indianer mit allem Nötigen eindecken konnten. Nachkommen der zwei Pioniere aus dem Neckartal leben bis heute in Hebron, heißt es in einem 1978 im Eberbacher Geschichtsblatt erschienenen Beitrag. Bei Besuchen in der alten Heimat sollten die Söhne der Neckarstadt später erfolgreich für ihre aufstrebende Siedlung in den Vereinigten Staaten werben und bis 1910 noch etliche Menschen von hier nachziehen. Namen wie Krauth und Leutz, Backfisch, Baumbusch, Conrath, Seifert, Oess und Schreck tauchen in diesem Zusammenhang auf.
Ein paar und 20 Kilometer weiter südlich im Kraichgau. Im Dörfchen Daisbach nahe Eschelbronn machten sich ab Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts über 70 Männer und Frauen auf den Weg, um in einer neugegründeten Siedlung in Wisconsin ein neues Leben zu beginnen. Sie alle wurden von einem kleinen Ort namens Marion angezogen, im Bezirk Grant County unweit der Kleinstadt Boscobel gelegen. Nach drei Auswanderungswellen hatten hier bis 1910 insgesamt 29 Haushalte einen Migrationshintergrund aus Daisbach. Erforscht hat dies der Eschelbronner Historiker Dr. Marius Golgath, der seit letztem Oktober das Eberbacher Stadtarchiv leitet. Ihm gelang es, ein zuvor ungeahntes Auswanderer-Netzwerk zwischen Daisbach und Marion/Boscobel sichtbar zu machen, obwohl Siedlungen von Badnern in Wisconsin ihm zufolge eine Seltenheit waren. Dass Golgath im Zuge dessen auch auf eigene Vorfahren unter den Ausgewanderten stieß, sollte dabei nicht das einzige Forschungsergebnis von persönlichem Belang für ihn bleiben. Denn seine Kontakte setzten bald zu einem lebendigen Austausch der Nachfahren beider Orte in Gang, der bis heute anhält.
Die Farm der Familie Freymüller/Freymiller, die mit der zweiten Auswandererwelle in Marion angelangte. Auch diese historische Aufnahme stammt aus Golgaths Sammlung. Foto: privatEine genealogische Anfrage aus Wisconsin im Rathaus von Eschelbronn hatte die Recherche 2013 angestoßen, und Golgath, damals Mitte 20, hatte sich in der Gemeinde zu dieser Zeit längst für derlei Aufgaben empfohlen. Für eine Kalifornierin mit Wurzeln in Eschelbronn und Daisbach hatte der damalige Student der Geschichte, der sich mit baden-württembergischer und deutscher Auswanderungsgeschichte in die USA und Kanada da schon wissenschaftlich beschäftigte, bereits als 14-jähriger Ahnenforschung betrieben – und pflegt seit damals persönliche Verbindung dahin.
In einem Artikel im Heimatkalender "Unser Land" ist von Marius Golgath 2016 "Vom Kraichgau nach Wisconsin – Auf den Spuren einer Daisbacher ,Massenauswanderung'" erschienen. Er beschreibt darin, wie Familiennamen von Auswanderern, die ihm aus Daisbach geläufig waren, seinen Forscherdrang angestachelt hätten: Wagner zuerst, dann Böbel, Brechler, Freymüller, Heller, Salzgeber, Scheid, Schwab … Er zeichnet nach, wie der Daisbacher Christoph Brechler mit Familienmitgliedern und Freunden auf der Suche nach Farmland 1854 Marion für sich – und in der Folge dann für viele weitere Daisbacher entdeckte.
Mitglieder der Daisbacher Auswandererfamilie Schwab bei der Feldarbeit. Daisbach war für die Zucht von belgischen Kaltblütern bekannt, laut Marius Golgath werden die Pferde der deutschen Siedler von Marion in amerikanischen Beschreibungen hervorgehoben. Foto: privatDie Landschaft habe ihn an den Kraichgau erinnert, die Gruppe ließ sich nieder. Marion, schreibt Golgath, war damals eine Streusiedlung aus Farmen und einer Mühle. Ackerland war im Unterschied zur alten Heimat, wo sich der Boden durch Erbteilung zunehmend parzellierte, reichlich vorhanden, und weil die Daisbacher dies- und jenseits des Atlantiks in Verbindung blieben, trafen in den 1860/70er-Jahren und letztmals zwischen 1880 und 1894 weitere Menschen aus der Kraichgau-Gemeinde dort ein.
In einigen Fällen hat sich Deutsch innerhalb der Familien in Wisconsin bis heute gehalten, weiß Golgath. "Bei Familientreffen sprachen die älteren Generationen Deutsch". Eine der letzten in Marion lebenden Personen, die Deutsch noch von ihren Eltern gelernt hatten, war Gertrude Freymiller. Sie verstarb 1998 im Alter von 86 Jahren.