Geburt im Stau - werdende Eltern erleben Horrortrip
Weil das Neckartal zwischen Heilbronn und Heidelberg keine Geburtshilfestation mehr hat, kommt ein Kind im Auto zur Welt.

Von Barbara Nolten-Casado
Eberbach/Heidelberg. Vor ein paar Monaten hatte eine Freundin ihr Kind auf dem Weg von Eberbach zur Klinik im PKW am Straßenrand zur Welt gebracht. "So etwas wird uns nicht passieren", sagten sich Lena und Paul (Namen von der Redaktion geändert). "Wir werden auf jeden Fall ganz frühzeitig losfahren." Und dann geschieht es doch.
Am Dienstag vorletzter Woche ist das junge Paar aus Eberbach im Heidelberger Krankenhaus seiner Wahl zur Untersuchung. Lena ist neun Tage über dem errechneten Geburtstermin.
Hintergrund
> Im Rhein-Neckar-Kreis haben 2020 insgesamt 4934 Kinder das Licht der Welt erblickt. Damit war die Geburtenrate im Kreisgebiet nur geringfügig niedriger als in den beiden Vorjahren,
Nach der jährlichen Auswertung des Statistischen Landesamtes liegt die Geburtenrate
> Im Rhein-Neckar-Kreis haben 2020 insgesamt 4934 Kinder das Licht der Welt erblickt. Damit war die Geburtenrate im Kreisgebiet nur geringfügig niedriger als in den beiden Vorjahren,
Nach der jährlichen Auswertung des Statistischen Landesamtes liegt die Geburtenrate auf Landesebene im Schnitt bei 1,55 Kinder je Frau. Der Rhein-Neckar-Kreis liegt mit 1,57 Kindern je Frau etwas höher, bleibt aber mit dieser Rate im hinteren Drittel in der Rangfolge der Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg.
> Für die regionalen Unterschiede in der Geburtenhäufigkeit gibt es vielfältige Gründe. Auffällig ist weiterhin ein traditionelles, wenn auch nicht mehr flächendeckendes Land-Stadt-Gefälle. In den meisten ländlich geprägten Regionen liegt die Kinderzahl je Frau über dem der Städte.
In Hochschulstandorten – wie im Stadtkreis Heidelberg – ist die Geburtenrate besonders niedrig, weil hier sehr viele junge Frauen leben, die Studium und Berufseinstieg einen höheren Stellenwert einräumen.
> Seit der hohen Zuwanderung in den Jahren 2014 bis 2017 stieg die Geburtenrate im Land an. Eine weitere Ursache für diese immer noch andauernde positive Entwicklung kommt durch die Kinder der "Babyboomer"-Jahrgänge hinzu, da diese nun selbst wieder Kinder bekommen.
> Dieser Trend ist grundsätzlich zum einen darauf zurückzuführen, dass im vergangenen Jahrzehnt die Kinderbetreuung im Land deutlich verbessert wurde und somit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert wurde und zum anderen auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Bei einer niedrigen Arbeitslosenquote und einem Höchststand von Erwerbstätigen wurde für viele Paare eine Familiengründung planbarer und sicherer. (RNZ)
Die Strecke Eberbach-Heidelberg müssen die Hochschwangere und ihr Mann seit einigen Tagen täglich pendeln – rund 70 Kilometer – um zu erfahren, ob es ihrem ungeborenen Kind weiter gut geht.
An diesem Vormittag werden zwar leichte, unregelmäßige Wehen festgestellt. Trotzdem lässt man die beiden zurück ins Neckartal fahren. Kaum zu Hause angekommen, spürt Lena erste kräftigere Wehen. Wenig später sitzen die beiden erneut im Auto Richtung Heidelberg. Und dann geht alles ganz schnell.
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In Hirschhorn kommen die Wehen schon alle drei Minuten. Lena kniet ab jetzt auf dem Beifahrersitz, um die Schmerzen besser zu ertragen.
Sie krallt ihre Hände in die Kopfstütze, um nicht umzufallen, wenn ihr Mann durch eine Kurve fährt oder abbiegt. "Wir schaffen das!", spricht Paul seiner Frau Mut zu.
Bei Neckarsteinach zieht ein Unwetter auf. Es beginnt zu stürmen, zu blitzen, zu donnern. Regenmassen prasseln vom Himmel, der Scheibenwischer kann sie kaum bewältigen. "Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film", sagt Paul im Rückblick. "Aber es war alles sehr real."
Vor Ziegelhausen dann der SuperGAU. Die Straße ist vom Unwetter überspült, Wasser sprudelt aus den Gullys. Der nachmittägliche Berufsverkehr ist zum Erliegen gekommen. Rings um Paul und Lena stauen sich die Fahrzeuge.
Polizei oder Krankenwagen zu Hilfe rufen? Zwecklos. Lena spürt, wie der Geburtsvorgang seinen Lauf nimmt. "Oh Gott, was soll ich denn jetzt machen?", schreit sie verzweifelt. Paul weiß es auch nicht. Er ruft seine Schwägerin Maria an.
Sie ist Hebamme. Sie muss helfen. Mehrere Jahre lang hat Maria im Schwäbischen als freiberufliche Hebamme Kinder bei Hausgeburten auf diese Welt begleitet. Bis sie – wie viele ihrer Kolleginnen – resignierte und sich aufgrund unzumutbarer Arbeitsbedingungen, schlechter Vergütung und horrender Haftpflichtversicherungsprämien gezwungen sah, die Geburtshilfe aufzugeben. Inzwischen betreut sie Frauen und ihre Kinder nur noch geburtsvorbereitend und im Wochenbett.
Zum Glück geht Maria sofort ans Telefon. Per Video-Call versucht sie nun übers Handy, Lena und Paul nach besten Kräften zur Seite zu stehen. "Bleibt ruhig, alles wird gut", will sie die beiden beruhigen. Während die Blechlawine sich im Schneckentempo vorwärtsbewegt, sagt sie Lena, wie sie atmen soll und erklärt ihr, was in jedem Moment in ihrem Körper vor sich geht.
Irgendwann kommt der Ruf aus dem Handy-Lautsprecher: "Paul, fahr rechts ran, Euer Kind kommt. Du musst rüber auf die Beifahrerseite und es annehmen."
Paul schaltet das Warnblinklicht ein, drückt auf die Hupe und tritt aufs Gaspedal. Nur noch wenige hundert Meter trennen ihn und seine Frau von der Klinik. Er will es schaffen. "Halt an, das Kind kommt JETZT!", erklingt Marias Stimme wenig später aus dem Handy. Nach 75-minütigem Horror-Trip kommt das Auto vor dem Eingang des Krankenhauses zum Stehen.
Paul springt hinaus in die himmlischen Sturzfluten. Er reißt die Beifahrertür auf. Sekunden später hält er seinen kleinen Sohn in den Händen. Passanten eilen ins Krankenhaus. Sie holen Hilfe.
Paul legt seiner Frau das Baby in die Arme. Er zieht sein T-Shirt aus und hüllt das Neugeborene darin ein, um es vor Regen und Kälte zu schützen.
Ärzte, Hebammen, Krankenschwestern laufen schon herbei. Sie nehmen Mutter und Kind in ihre Obhut. Paul fährt das Auto zur Seite.
Einige Zeit später heißt es: Mutter und Kind sind wohlauf. Das erhoffte Familienzimmer bekommen die drei allerdings nicht. Die Station ist voll, das Personal am Limit. "Kein Wunder", sagt Paul, "wenn neben den Leuten von hier auch noch das gesamte Umland zum Kinderkriegen herkommen muss." Doch Erleichterung und Freude sind groß. Alles ist gut gegangen. Die neue Familie hat Glück gehabt. Wenngleich: der Groll bleibt.
"Warum muss so etwas in einem der reichsten und höchstentwickelten Länder der Erde sein?", fragen sich Lena und Paul, als der Schrecken des Erlebten langsam nachlässt. "Warum ist kein Geld da, um jungen Eltern solche Erfahrungen zu ersparen?"
Dabei gab es bis vor einigen Jahren am Eberbacher Krankenhaus eine gut ausgestattete Entbindungsstation, wissen die beiden. Lena, Paul und alle ihre Geschwister haben dort das Licht der Welt erblickt. Dann wurde die Station geschlossen, weil sie sich nicht mehr rechnete.
2020 wurde nun auch die Geburtshilfestation am Mosbacher Krankenhaus – trotz großen Protests aus der Bevölkerung – aus Kostengründen geschlossen. Seitdem gibt es im gesamten Neckartal zwischen Heidelberg und Heilbronn keine Klinik mehr, in der eine Frau ihr Kind zur Welt bringen kann. Die Kreißsäle in den Krankenhäusern Buchen und Sinsheim sind mit 30 bis 35 Kilometern Entfernung ebenfalls weit weg.
"Eine kinder- und familienfreundliche Politik sieht für mich anders aus", macht Paul seinem Ärger Luft. "Sie beginnt schon vor der Geburt." "Bis zum Eberbacher Krankenhaus hätten wir’s geschafft", sagt Lena und lächelt.