Buchen

Der "Mantel des Schweigens" wurde gelüftet

Neues Buch über 18 Euthanasie-Opfer aus Buchen vorgestellt. Das Buch schließt eine Lücke in der Geschichte der Stadt.

23.09.2021 UPDATE: 24.09.2021 06:00 Uhr 2 Minuten, 45 Sekunden
Die Autoren des Buchs und die Redner bei der Buchvorstellung am Montagabend. Foto: Martin Bernhard

Buchen. (MB) Es geht um Würde und Gerechtigkeit: Mit der Veröffentlichung von 18 Biografien von behinderten und psychisch kranken Menschen aus Buchen, die während der Nazi-Zeit ermordet wurden, geben die Autoren den Menschen posthum ihre Würde zurück. Die Stadt stellte am Montag das Buch "Im Sammeltransport nach unbekannter Anstalt verlegt" in feierlichem Rahmen in der Stadthalle vor. Außerdem wurde die Ausstellung "Grafeneck 1940" eröffnet.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Bürgermeister Roland Burger stellte seiner Ansprache Artikel eins des Grundgesetzes voraus. Auch die Redner nach ihm bezogen sich auf diesen zentralen Wert unserer Demokratie. Pianistin Mara Westerman von der Joseph-Martin-Kraus-Musikschule hatte passende Werke für diesen Abend gewählt.

Bei den Nationalsozialisten galt die Würde ihrer Opfer nichts. "Das ist beispiellos in der Geschichte", sagte Burger. "Eine Behinderung war gleichbedeutend mit einem Todesurteil." Jahrzehntelang habe ein "Mantel des Schweigens" über der Euthanasie gelegen. Spät, aber nicht zu spät, habe man nach den Opfern in Buchen geforscht, damit sie einen "Platz in der Geschichte" erhielten.

Eine Ausstellung über die Gedenkstätte Grafeneck wurde am Montagabend in der Stadthalle gezeigt. Diese kann bis zum 17. Oktober im Foyer des Rathauses besichtigt werden. Foto: Martin Bernhard

Burger dankte besonders Ingrid Landwehr, die 2014 begonnen hatte, zu diesem schwierigen Sachverhalt in Buchen zu recherchieren. Seine Hochachtung zollte der Bürgermeister dem "Arbeitskreis Euthanasie" insgesamt: "Es war schwierig, die Quellenarbeit zu leisten." Das Werk schließe eine "Lücke in der Geschichte unserer Stadt", stellte Burger fest. "Die Autoren haben den Ermordeten ihre Geschichte, ihre Namen und ihre Würde zurückgegeben."

Landrat Dr. Achim Brötel erinnerte an die rund 200.000 Opfer der Euthanasie unter der Nazi-Herrschaft. Die sogenannte Aktion "T4" verfolgte den planmäßigen Mord an körperlich oder geistig behinderten Menschen, an Kranken sowie an "Asozialen".

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Autoren: Herbert Albrecht, Peter Bechtold, Willi Biemer, Peter und Jutta Biller, Bernd Fischer, Isabelle Semma, Gerlinde Trunk, Hans-Werner Scheuing und Tobias-Jan Kohler.

Gestaltung: Matthias Grimm mit seinem Team von

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Autoren: Herbert Albrecht, Peter Bechtold, Willi Biemer, Peter und Jutta Biller, Bernd Fischer, Isabelle Semma, Gerlinde Trunk, Hans-Werner Scheuing und Tobias-Jan Kohler.

Gestaltung: Matthias Grimm mit seinem Team von "SchreiberGrimm".

Herausgeber: Stadt Buchen

Seiten: 160

Preis: 24 Euro

Verkaufsstellen: Online-Shop der Stadt Buchen, Verkehrsamt, Bezirksmuseum.

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Einer der wenigen, die sich gegen dieses Unrecht auflehnten, war der Münsteraner Kardinal Clemens August Graf von Galen. Dieser verurteilte 1941 die Gräueltaten. Daraufhin wurden die Nazis vorsichtiger. Statt die Morde in den sechs Todesanstalten zu begehen, taten sie dies dezentral in vielen "Heilanstalten" durch Medikamente und Unterernährung. Nach den Worten des Landrats stammten mindestens 263 dieser Opfer aus der heutigen Johannes-Diakonie.

2015 befasste sich der Kreishistorikertag mit diesem Thema. Mithilfe des Historikers Dr. Dietmar Schulze aus Leipzig erforschte man auch die Schicksale von 50 Bewohnern der ehemaligen Kreispflegeanstalt Krautheim, die damals zum Landkreis Buchen gehörte. "Es ist leider in der Tat so: Die Menschen haben damals nicht deutlich genug widersprochen", sagte Brötel. "Aber auch danach haben in Deutschland viel zu viele geschwiegen." Deshalb seien die Opfer jenes unsäglichen Massenmords zunächst jahrzehntelang von jeglichem Gedenken ausgeschlossen gewesen.

Vor diesem Hintergrund lobte der Landrat die Leistung der Autoren des Buchs umso mehr. "Sie haben in bewundernswerter Detailarbeit und durch akribische Auswertung zahlreicher Quellen die Lebensgeschichten der Opfer aufgearbeitet." Damit hätten sie diesen zumindest einen Teil ihrer Menschenwürde zurückgegeben. "Das Buch steht für eine offene Erinnerungskultur in Buchen", stellte Brötel fest. Und er mahnte, wachsam zu sein, wenn es um den Erhalt unserer demokratischen Werte gehe.

Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, erläuterte, wie es dazu kam, dass das Schloss Grafeneck 1940 zum "Schauplatz eines Verbrechens" wurde. Die Ideen zu diesem fürchterlichen Menschenbild, wonach man Leben als lebensunwert bezeichnen kann, gehen auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. 50 Jahre später wurde diese Idee mit der Aktion "T4" grausam verwirklicht. Die Opfer seien selektiert, abtransportiert und meist am Tag ihrer Ankunft auf Grafeneck ermordet worden. Ein Jurist sollte später diese Vorgehensweise "arbeitsteilige Täterschaft" nennen. Nach den Worten von Stöckle waren in Grafeneck 80 bis 100 Täter beteiligt. Von den 10.654 Opfern habe man von rund 9700 die Namen ermitteln können. Diese kamen insgesamt aus mehr als 1000 Ortschaften.

Nach den Worten von Stöckle hingen die Täter einem völkischen Denken an. Letztlich habe man gefragt: "Wer gehört nicht dazu?" Die Folge war, dass man angeblich unwertes und unproduktives Leben vernichtete. In den Prozessen nach 1945 hätten die Täter ihre Taten nicht abgestritten. Nachdem die Urteile gefällt waren, gerieten die Opfer der Euthanasie über Jahrzehnte in Vergessenheit.

Stadtarchivar und Mit-Autor Tobias-Jan Kohler ging exemplarisch auf zwei Biografien von Opfern aus Buchen ein. Auch er wies darauf hin, dass die Anfänge solch menschenverachtenden Gedankenguts um 1900 mit dem Forschungszweig Eugenik entstanden. Man habe die Bevölkerungszunahme steuern wollen. Ein Ansatz habe darin bestanden, bestimmte Menschen gezielt unfruchtbar zu machen.

Auch Kohler wies auf eine "schwierige Erinnerungskultur" nach dem Krieg hin. Bis in die 1980er-Jahre gedachte man nicht der Opfer der Euthanasie. Das habe sich erst in den vergangenen Jahrzehnten geändert.

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