Von Joachim Klaehn
Gemeinsamkeiten schließen keine Unterschiede aus. Rüdiger Hopp (81) erinnert sich gut an 1972. Das Jahr, in dem sein Bruder Dietmar beschließt, seinen sicheren Job bei IBM aufzugeben und ein eigenes Unternehmen zu gründen. Volles Risiko. Heute würde man Startup sagen zu dem, was Dietmar Hopp mit seinen Kollegen Plattner, Wellenreuther, Hector und Tschira angeht. Diese kleine Firma "Systemanalyse und Programmentwicklung", der spätere Weltkonzern SAP, ist ein Wagnis. Und Dietmar hätte gern seinen Bruder Rüdiger bei diesem Abenteuer dabei.
Dietmar Hopp ist die treibende Kraft. Er übernimmt die kaufmännische Führung in dieser "Denkfabrik", in der nichts geschraubt oder gelötet wird, nein, es werden der Klientel komplizierte Computerprogramme angeboten. Oftmals hat Dietmar Hopp darüber gesprochen, dass die SAP-Köpfe das Kapital des Konzerns seien.
Auch der 14 Monate ältere Rüdiger ist ein schlauer Kopf. Aber er ist von seinem Naturell her zurückhaltender und weniger belastbar. "Mir war klar, dass es eine fürchterliche Maloche wird", sagt Rüdiger Hopp 2018 der Süddeutschen Zeitung, "ich wollte lieber ein ausführliches Familienleben mit Feierabend und freiem Wochenende." Kurz: Die Angebote des Bruders schlägt er aus. Rüdiger will Angestellter bei IBM bleiben – ein Job im Übrigen, den ihm Dietmar schon empfohlen hatte.
Trotz verschiedener Wesenskerne und Entwicklungen verändert sich die Beziehung der Hopp-Brüder zu keinem Zeitpunkt. Rüdiger will niemals mit Dietmar tauschen, auch als die Software-Schmiede durch die Börsen-Decke geht. Oder doch? "Nein, ich habe gesehen, mit welchen Opfern die SAP-Gründer ihren Erfolg bezahlt haben. Den erlangten Reichtum habe ich ihm von Herzen gegönnt. Er hatte mehr Geld – ich hatte dafür mehr Zeit", schmunzelt Rüdiger Hopp im Gespräch mit der RNZ eine sich aufdrängende Frage weg.
Lebensgeschichten werden griffiger, wenn sie von Kinder- und Jugendtagen her erzählt werden. Karola (1929 geboren, 2018 verstorben), Wolfgang (*1931, bei einem Verkehrsunfall 1960 ums Leben gekommen), Rüdiger (*1939) und Dietmar Hopp (*1940) wachsen in Hoffenheim auf. Die Eltern Luise (geborene Arnold) und Emil Hopp versuchen, in wirren Zeiten größeren Schaden von ihrer Familie fernzuhalten. Der Alltag in dörflicher Umgebung findet draußen statt, erst recht, nachdem es keinen Kindergarten mehr im Ort gibt. Die jüngeren Kinder spielen auf den Straßen, in den umgebenden Feldern oder im Wald. Luftangriffe der Alliierten sind von Mannheim her ab 1944 zu hören und am bedrohlichen Feuerschein zu erkennen.
"Unsere Kinder- und Jugendzeit", erzählt Rüdiger Hopp, "war durch materielle Not geprägt." Bei Dietmars Geburt sei der Vater bereits 46 Jahre alt gewesen. Die Familie Hopp muss mit einer Hypothek klar kommen. Der Vater ist als Lehrer und Dirigent zweier Männerchöre auch ein SA-Mann und somit unweigerlich mit dem System des Nationalsozialismus verstrickt. Wie viele, viele andere auch, die es später verdrängen und verleugnen.
Rüdiger Hopps Rückblick zeichnet sich durch große Sachlichkeit für die damalige Situation aus: "Unser Vater hat nach dem Krieg keine Lehrerstelle mehr bekommen. Da wir alle vier das Abitur gemacht haben, hat sich durch das Schulgeld die finanzielle Lage der Familie noch verschlechtert." Emil erhält erst in den fünfziger Jahren eine gekürzte Pension.
Dietmar Hopp - Engagement, Stiftung und ProjekteIn der Dorfjugend sind Rüdiger und Dietmar gut vernetzt, haben viele Freunde, gelten als verlässlich. Die Nachkriegsära wird für eine ganze Nation, mit dem Verlierer-Stigma versehen, zu einer fundamentalen Bewährungs- und Belastungsprobe. Man vermag sich dies heutzutage kaum mehr vorzustellen, wie es um die finanzielle Lage und die Psyche nach dem Kriegsende 1945 bestellt ist.
Schonungslos schildert Rüdiger Hopp: "1946 und 1947 konnten sich Dietmar und ich nie satt essen. Ich habe damals gesagt, wenn man mich ließe, könnte ich einen ganzen Korb voll Weihnachtsgebäck vertilgen." Die Menschen wissen gar nicht mehr, wie sich Sattsein überhaupt anfühlt. "Ab der Währungsreform 1948 wurden die Mahlzeiten etwas reichlicher, aber fast alle Leute – und wir besonders – waren bettelarm", berichtet Rüdiger Hopp. Eine solch schlimme Zeit ist prägend. Ohne Wenn und Aber. Sie schult fürs Leben und Überleben. Die Not macht erfinderisch.
Dietmars besonderer Ehrgeiz, seine Auffassungsgabe und Einfallsreichtum werden früh ersichtlich. Er wähnt sich gleichaltrig mit Rüdiger. Die Hopp-Brüder halten wie Pech und Schwefel zusammen. Auch bei Zwistigkeiten, Balgereien oder Prügeleien. Rüdiger bekennt: "Dietmar konnte schon damals effizienter und ausdauernder arbeiten als ich. Das Feedback von unseren älteren Geschwistern und unserer Mutter spornte ihn wesentlich dazu an." Die Jungs sammeln Alteisen, organisieren Futter für Stallhasen und Gänse der Familie, sparen sich Geld zusammen, um sich ein Luftgewehr für 14 Mark anschaffen zu können. Das wiederum dient der Spatzenjagd, die den eigenen Hühnern die Nahrung wegfressen.
Dietmar Hopp und die PromisAm Ertragreichsten gestaltet sich das Sammeln von Weinbergschnecken. Ein Eimer Schnecken bringt das Vielfache im Vergleich zum Austragen an Kohle ein. Dafür gibt es sensationell viel Geld – und gerade darin ist Dietmar Meister seines Faches. "Später waren wir dann auf Baustellen und in einer Bammentaler Tapetenfabrik aktiv", führt Rüdiger Hopp weiter aus, "um als Schüler und Studenten etwas dazu zu verdienen. Als ich nach dem Abitur zur Bundeswehr ging, hat er von mir die lokale Berichterstattung für Hoffenheim bei der RNZ übernommen." Das Zeilenhonorar fällt bescheiden aus, doch im Endeffekt geht es um finanzielle Unabhängigkeit vom Elternhaus.
Mutter Luise ist Bezugspunkt und Ansprechpartnerin für nahezu alle familiären Belange. Eine tapfere, aufrechte Frau. Sie ist verantwortungsbewusst, holt nach dem verrichteten Tagewerk jeden Abend ihr berühmt-berüchtigtes Büchlein raus, in dem sie auf Heller und Pfennig die Ausgaben einträgt. Sie ist die moralische Instanz. Mit Respekt und tiefer Zuneigung spricht Rüdiger über sie im Austausch mit dieser Zeitung: "Unsere Mutter hat sich für ihre Kinder aufgeopfert. Sie hat sich auch gegenüber unserem Vater durchgesetzt, dass wir alle das Wilhelmi-Gymnasium in Sinsheim besuchen durften."
Rüdiger und Dietmar wollen unbedingt studieren. Die Mutter fördert und unterstützt das. Ihr Wunsch ist es, dass Rüdiger Studienrat und Dietmar Lehrer oder evangelischer Pfarrer werden soll. Bei aller Liebe: Die beiden Söhne erfüllen ihr das nicht. Es ist relativ normal, dass Mamas so ticken. Bankangestellter, Lehrer, Pfarrer oder dergleichen – diese Berufszweige stehen nämlich für Solidität, geregeltes Einkommen sowie eine ordentliche Pension. Rüdiger, der in Heidelberg Volkswirtschaftslehre studiert, und Dietmar, der sich in Karlsruhe der Nachrichtentechnik widmet, kreuzen bei der Mutter fast jedes Wochenende auf. Rüdiger Hopp erinnert sich: "Sie hat traumhaft gekocht! Und immer nur das, was wir auch gerne wollten. Zu unserer Überraschung hat sie jedem von uns zum Examen 3000 Mark für ein Auto geschenkt. Dies hat sie nur mit eisernem Sparwillen geschafft."
Dietmar findet es gut, dass Rüdiger an der Uni Heidelberg promoviert. Auch wegen der räumlichen Nähe zur Mutter. Rüdiger wird Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heidelberger Alfred-Weber-Institut. Seine Dissertation besteht er bei Edwin von Böventer mit "Magna cum laude", seine herausragende Arbeit wird zudem von einem Wissenschaftsverlag veröffentlicht.
Dietmar Hopp habe im Gegensatz zu seinen SAP-Gründerkollegen Plattner, Wellenreuther, Hector und Tschira nie einen Professoren- oder Doktortitel h.c. angenommen. Vor einigen Jahren sprechen sie beide bei einem Treffen den Punkt an: "Er hat miterlebt, wie ich mich für meine Dissertation anstrengen musste. Einen solchen Titel wollte Dietmar nie für lau haben", so Rüdiger.
Während Dietmar zu einem preisgekrönten Unternehmer, Stifter und Milliardär aufsteigt, bleibt Rüdiger von 1969 an bei IBM in der Geschäftsstelle Mannheim. Er ist bis 1994 für spannende Projekte mit Forschungseinrichtungen und Universitäten zuständig.
Sie pflegen stets innigen Kontakt. Herzlich, vertrauensvoll, einander zugewandt. Bruderliebe lässt sich durch nichts erschüttern. "Fleiß, Durchhaltevermögen, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Empathie für andere Menschen und Zusammenhalt in der Familie waren zugleich die uns vermittelten Werte. Diese hat uns unsere Mutter vorgelebt", sagt Rüdiger Hopp.
Dietmar Hopp und der SportDer 81-Jährige, der mit seiner Frau Gabriele in Schriesheim lebt, hat manche Anekdote parat. Wegen einer Knieverletzung muss Rüdiger Hopp früh mit dem Fußball in Hoffenheim aufhören, Dietmar Hopp bleibt indes dem runden Leder stets verbunden. Ähnlich verhält es sich mit dem Golfsport, den Rüdiger vor zehn Jahren aus gesundheitlichen Gründen aufgeben muss. Über die unterschiedlichen Stärken sagt er: "Beim 100-Meter-Lauf, im Weitsprung und im Schreiben von Aufsätzen war ich führend – alles andere konnte Dietmar besser. Bei einem Hallentennis-Match, das auch unsere Frauen beobachteten, hat er mich mit 46:0 abgezogen." Anneliese und Gabriele sind entrüstet.
Gemeinsame Aktivitäten stehen unverändert auf der Agenda. Bei einem guten Essen und einem guten Gläschen tauschen sie sich aus. Die Bruder-Beziehung bleibt ungetrübt. Nur bei den diversen Schmähungen im Stadion gegen Dietmar Hopp und auch gegen ihre Mutter wird es für Rüdiger Hopp äußerst schwierig. "Mich ekelt das an, aber ich versuche wegzusehen und wegzuhören. Mich belastet viel mehr, dass Dietmar so sehr darunter leidet", beschreibt Rüdiger die Kehrseite der Bekanntheit und die hässliche Fratze des Fußballs. Rüdiger versucht es vergeblich mit einem Ratschlag, Dietmar möge die Anfeindungen nicht so nah an sich rankommen lassen.
Der Börsengang 1988, der Kauf von SAP-Aktien, den auch Rüdiger Hopps Schwiegervater avisiert, die Gründung der Dietmar Hopp Stiftung, runde Geburtstage, bei denen sie gegenseitig Reden halten, sind für Rüdiger Hopp Höhepunkte und belegen die besondere brüderlich-kameradschaftliche Allianz.
Bezeichnenderweise sagt Rüdiger Hopp: "Unsere Beziehung, wie sie heute ist, könnte nicht besser sein. Uns verbindet sehr viel. Was uns trennt? Dazu fällt mir wirklich nichts ein."
Der Bruder als bester Freund – das ist ein kostbarer Schatz fürs ganze Leben.