Wagt er in seiner dritten Legislatur als Ministerpräsident das Experiment einer Ampel-Regierung? Winfried Kretschmann hat „die Qual der Wahl“. Foto: Sebastian Gollnow
Von Sören S. Sgries
Stuttgart/Heidelberg. Der Zeitplan für den Mittwoch stand fest: Um 10.30 Uhr wollten die Grünen die CDU zum ersten Sondierungsgespräch empfangen, um 14 Uhr die SPD und zum Abschluss, um 16 Uhr, die FDP. Fest stand aber auch: Wer zu redselig aus den Runden im "Haus der Architekten" in Stuttgart plauderte, würde Gefahr laufen, die eigene Verhandlungsposition empfindlich zu schwächen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte schließlich deutlich gemacht, wie viel Wert er auf einen "verlässlichen Umgang" lege – innerhalb einer Regierung, aber natürlich auch im Vorfeld. "In einer Krise darf man nicht noch eine weitere Krise produzieren", so Kretschmanns Mahnung.
Inhaltlich und persönlich gute Chancen hätte sicherlich ein grün-rotes Bündnis gehabt. Einen "idealen Match", also einen perfekten Treffer, nennt der Mannheimer Politikwissenschaftler Marc Debus gegenüber der RNZ diese Kombination. Das Problem: Grünen und SPD fehlt im neuen Landtag dafür genau eine Stimme.
Bleiben die Optionen Grün-Schwarz und "Ampel" – wobei Debus aus wissenschaftlicher Sicht ein Grüne-CDU-Bündnis für wahrscheinlicher hält. Doch was spricht für, was gegen die jeweilige Koalition? Welche Chancen und Risiken bieten sich den Parteien?
Ein Kreuz, zwei Stimmen - Folge 11: Die Wahlnachlese - mit Politikwissenschaftler Marc Debus
Moderation: Sören Sgries und Alexander Rechner / Schnitt und Produktion: Reinhard Lask
Grün-Schwarz: Man kennt sich
> Das spricht dafür: Winfried Kretschmann wird nachgesagt, dass er persönlich eher einem Bündnis mit der CDU zugeneigt sei. Und so, wie er selbst mit "Sie kennen mich" um die Wählerstimmen warb, kann jetzt auch die CDU-Delegation im Parteichef Thomas Strobl auf die Nähe in den vergangenen fünf Jahren verweisen. Politikwissenschaftler Debus nennt das den "Amtsinhaberbonus": "Man kennt sich, man hat miteinander regiert, man braucht nicht groß auszuwechseln." Auch ein Koalitionsvertrag könnte daher schneller ausgehandelt sein als mit SPD und FDP.
Für die Grünen-Seite angenehm in den Verhandlungen mit der CDU: Für viele Konservative erscheint – nach der herben Wahlniederlage – eine mögliche Fortsetzung der grün-schwarzen Koalition als die einzige Chance, sich nicht komplett in der Selbstzerfleischung zu verlieren. Spitzenpolitiker wie Strobl oder Fraktionschef Wolfgang Reinhart müssen um ihre persönliche Zukunft in der Landes-CDU bangen, sollten sie keinen Verhandlungserfolg erreichen. Und für die gesamte Partei ist die Aussicht, allein mit der AfD auf den Oppositionsbänken im Landtag Platz nehmen zu müssen, eine Horrorvision. Da könnte die grüne Verhandlungsseite den geschwächten Schwarzen vielleicht einige Zugeständnisse abringen, die vor fünf Jahren noch undenkbar waren – beispielsweise für ambitionierteren Klimaschutz oder bei Kretschmanns Plan, einen "neuen Gesellschaftsvertrag" zwischen Bauern und Verbrauchern auszuhandeln. Auch bei den Ministerien könnte Bewegung möglich sein.
> Das spricht dagegen: Für bedeutende Teile der grünen Partei war die Rücksichtnahme auf CDU-Interessen in der vergangenen Legislatur eine Zumutung. Die Bildung der "Klimaliste" als radikal-ökologische Partei könnte man als Mahnung begreifen, dass grüne Kernzielgruppen sich nicht mehr verstanden fühlten. Aber nicht nur in Klimafragen galt der Regierungspartner als "Klotz am Bein", auch in der Inneren Sicherheit gab es einige Konflikte. Und: Echtes Vertrauen in die CDU-Fraktion gibt es nicht mehr – seitdem diese den Koalitionsvertrag brach und eine Wahlrechtsreform verhinderte. Ob das in den kommenden Jahren besser wird, daran kann man durchaus zweifeln. Die Machtarithmetik innerhalb der CDU sei "überaus komplex", die notwendige personelle Neuaufstellung werde weitere Unruhe bringen, prognostiziert Politikwissenschaftler Debus. "Schwer zu sehen, wie hier die Dynamiken gehen."
Und auch innerhalb der CDU muss man sich fragen: Wie weit kann man den Grünen überhaupt noch entgegenkommen? Wenn in den kommenden fünf Jahren überhaupt keine CDU-Handschrift mehr sichtbar würde – dann könnte ein Wahlergebnis von 24,1 Prozent ja durchaus noch unterboten werden.
Die CDU-Delegation (v.l.): Fraktionsvize Nicole Razavi, Parteichef Thomas Strobl, Fraktionschef Wolfgang Reinhart. Foto: dpa"Ampel": Ein bisschen progressiver
> Das spricht dafür: Grüne und SPD liegen sich inhaltlich sehr nah, zumindest zwischen diesen beiden Parteien wären die Spiegelstriche eines Koalitionsvertrags vermutlich schnell ausgehandelt. Auch wäre das Team zumindest schon ein wenig "eingespielt" – schließlich war SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch schon 2013 bis 2016 unter Kretschmann Kultusminister in der grün-roten Koalition. In einer Regierung könnte seine Partei zudem wieder sichtbarer werden. Nicht vergessen: Die SPD verlor weitere Stimmen, konnte also als Oppositionspartei nicht wirklich punkten. Und nicht zuletzt würde sich auch die jeweilige Parteibasis mit einem vermeintlich "progressiveren" grün-rot-gelben Bündnis vermutlich zunächst recht wohl fühlen. Kretschmann selbst sagte zur Ampel: "Erlebnispsychologisch wäre es sicher interessant."
Für die SPD: Generalsekretär Sascha Binder (l.), Parteichef Andreas Stoch. Foto: dpa> Das spricht dagegen: die FDP. Zwar hat Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke in kluger Voraussicht in diesem Wahlkampf bereits einen "Kuschelkurs" in Richtung Winfried Kretschmanns eingeschlagen. Persönlich misstrauen aber viele Grüne dem FDP-Fraktionschef, der zahlreiche, gern auch polemische Attacken auf die "Ökos" zu verantworten hat.
Außerdem: Die FDP hat im Wahlergebnis deutlich zugelegt, geht also mit einem Gefühl der Stärke in die Gespräche. Anders als die CDU haben die Liberalen keinen Grund, zu nachgiebig zu sein, um in die Regierung zu kommen. Und die inhaltlichen Differenzen zu SPD und Grünen könnten sogar größer sein, als es bei Grün-Schwarz der Fall wäre. Im FDP-Wahlprogramm gibt es scharfe Spitzen gegen die Gemeinschaftsschule, auch in der Wirtschafts-, Verkehrs- und Umweltpolitik würden gänzlich gegensätzliche Ansätze aufeinander treffen.
Ob die FDP da einlenken würde? "Langfristig gedacht können solche inhaltliche Zugeständnisse massiv Stimmen kosten", sagt Marc Debus. "Wenn man sich komplett verbiegt, nur um in eine Regierung zu gehen, dann wird es bei kommenden Wahlen wirklich schwer werden." Die schwarz-gelbe Bundesregierung 2009 bis 2013 könnte mahnendes Beispiel sein: Inhaltlich drang man nicht durch – und wurde aus dem Parlament gewählt.
Die FDP-Spitzen: Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke (l.) und Parteichef Michael Theurer. Foto: dpa