Wohin mit überzähligen Kirchen?

In den Sechzigern wurden unzählige Kirchen gebaut, vielfach aus Beton - damals noch Synonym für Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Natur - Neunutzungen sind möglich, aber oft ungern gesehen

18.06.2015 UPDATE: 21.06.2015 06:00 Uhr 5 Minuten, 54 Sekunden

Schützenswerte Künstlerkirchen in Silbergrau: St. Paul auf dem Heidelberger Boxberg (Foto: privat).

Von Diana Deutsch

Endloser Odenwald. Traumschön liegen Wiesen und Wälder, gelassen schraubt sich die Landstraße von Mosbach aus höher. Dann die Vollbremsung. Was ist das? Mitten im 1800-Seelen-Dorf Lohrbach bohrt sich 28 Meter hoch der Campanile der katholischen Kirche St. Paulus in den Himmel. Seine Spitze wird gekrönt von einem 5,70-Meter-Kreuz. Die Kirche, ein Betonbau aus dem Jahr 1969, steht dem Turm an Gewaltigkeit kaum nach. Allein das dunkle Quadratdach, wie ein Zelt in der Mitte gefaltet, wiegt 110 Tonnen. Der Kirchenraum böte Platz für mehr als 500 Gläubige. So sie denn kämen. In Lohrbach wird nur noch einmal in der Woche Messe gefeiert. Meist am Dienstag.

St. Paulus ist kein Einzelfall, sondern ein Beispiel für ein Problem, das der katholischen wie der evangelischen Kirche Kopfschmerzen bereitet: Im Überschwang des Wirtschaftswunders überzogen beide Konfessionen das Land flächendeckend mit "modernen" Betonkirchen. Heute sind die meisten von ihnen sanierungsbedürftig, viel zu groß und eigentlich überflüssig. Was tun? Einfach platt machen und damit den Gläubigen die Seele aus dem Leib reißen? Viel Geld in die Hand nehmen, um Kirchen umzurüsten, in denen kaum noch jemand betet? Oder einfach zusperren? Die richtige Antwort weiß niemand. Der heilige Beton wird uns noch lange beschäftigen.

Unbegrenzt formbar und hart wie Stein

Beton ist keine Erfindung der Neuzeit. Schon die Römer mischten Sand und Kies mit Vulkanasche und gossen Meerwasser dazu. Durch chemische Reaktionen entstand ein flüssiger Zement, der sehr stabil war. Die Kuppel des Pantheon wurde aus "opus caementitium" geformt. Vor zweitausend Jahren.

Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Ingenieure, Betonbauteile mit einem Eisen-, später mit einem Stahl-Skelett zu verstärken. Der Bunkerbau im zweiten Weltkrieg perfektionierte diese Technologie. Die Betonindustrie der Nachkriegszeit verfeinerte die Rezepturen immer weiter, indem sie beispielsweise Kunststoff-Fasern hinzufügte. Die Architekten standen fassungslos vor Glück: Endlich gab es einen Werkstoff, der in flüssigem Zustand unbegrenzt formbar, getrocknet aber an Härte kaum zu überbieten war. Welche Möglichkeiten solch ein Material eröffnete, bewies 1954 der Schweizer Architekt Le Corbusier.

Auf dem Hügel über Ronchamp bei Belfort errichtete er eine Wallfahrtskirche, die mehr einer begehbaren Skulptur gleicht. Die Sichtbetonwände scheinen sich wie Tapeten zu entrollen. 27 Glasfenster stecken wie Schießscharten in der Mauer. Das graue Betondach wirkt wie ein Blatt, das jederzeit vom Wind davongetragen werden könnte. Alles poetisch, radikal, modern. Jeder Architekt wollte plötzlich Kirchen bauen.

Traf es sich gut, dass der Bedarf gerade riesig war. Der Krieg hatte die Menschen fromm gemacht, das Wirtschaftswunder machte sie jetzt wohlhabend. Neue Vororte umwucherten die Städte, ein jedes brauchte zwei neue Kirchen, zwei Gemeinde- und zwei Pfarrhäuser. Fertig war der sakrale Bauboom. "Geld spielte keine Rolle", sagt Ralph Hartmann, der evangelische Dekan von Mannheim. Und: "In kaum einer anderen Stadt ist die Dichte der Betonkirchen so hoch wie in Mannheim."

70 Gotteshäuser hat Melanie Mertens vom Denkmalschutzamt in Karlsruhe gezählt. "Die meisten Sakralbauten entstanden in den Jahren nach 1945." Im Mittelpunkt des Mannheimer Beton-Bau-Booms stand der junge Architekt Helmut Striffler. Jahre später würde er berühmt werden und den Mannheimer Hochhaus-Stadtteil "Vogelstang" entwerfen. Aber noch baute er Kirchen.

"Kleinliche Zutat fehlt gänzlich"

Trinitatis im Innenstadtquadrat G 4 war Helmut Strifflers Erstlingswerk. 1959. Von außen wirkt das evangelische Gotteshaus aus grauem Sichtbeton etwas abweisend. Innen jedoch schimmert die Kirche in den Strahlen der Morgensonne wie ein Aquarium. Das Licht bricht sich in Hunderten von Glasbausteinen zu einem opalen blau-grünen Meer. Die Fenster sind der einzige Schmuck der Trinitatis-Kirche. "Alles Material tritt unverkleidet in seiner natürlichen Beschaffenheit auf", gab Helmut Striffler bei der Einweihung zu Protokoll. "Die lapidaren Gegensätze von Stein, Glas, Holz und Metall beherrschen den Bau und geben ihm archaische Würde. Kleinliche Zutat fehlt gänzlich."

Besser kann man den Zeitgeist der Sechziger nicht in Worte fassen. Sichtbeton ist ein künstlicher Stoff, der in der Natur nicht vorkommt. Dennoch attestiert ihm Helmut Striffler eine "natürliche Beschaffenheit". Beton als Synonym für Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Natur - eine Generation später hat man über diese Assoziationen nur den Kopf geschüttelt. Ab Mitte der Siebziger stand Beton für Umweltzerstörung und Unmenschlichkeit.

Entsetzen im Odenwald. St. Paulus in Lohrbach, mit Kreuz 33 Meter hoch, soll abgerissen werden. Das verkündete der Sprecher des Erzbistums Freiburg im März 2012. Die Unterhaltskosten für die Betonkirche seien zu hoch. 76 000 Euro pro Jahr, so das Bistum, puste die Kirche durch ihre einfach verglaste Fensterfront hinaus. Ein gemütliches Gemeindezentrum mit Kapelle, schlug Freiburg vor, wäre doch viel besser.

Lohrbach reagierte prompt. Natürlich empört. Monatelang versammelten sich jeden Abend Menschen mit Kerzen auf den Stufen ihrer Kirche. Der gewaltige Campanile fand sich plötzlich bundesweit auf den Titelseiten: "Lohrbachs Wutbürger". Wobei es eigentlich eher um Verzweiflung ging. Natürlich wissen Lohrbachs Katholiken, dass ihre Kirche zu groß ist. Aber was wäre das Dorf ohne St. Paulus und den Turm? Das Kreuz wird nachts sogar angestrahlt.

Mannheims Protestanten können diese Gefühle nachempfinden. Schon zwei Mal rückten in der Quadratestadt die Baumaschinen an, um Betonkirchen niederzuwalzen, in denen die Menschen fünfzig Jahre lang gebetet hatten. Die Kreuz- und die Immanuelkirche sind nicht mehr. Epiphanias im Nobel-Stadtteil Feudenheim konnte dem Bagger gerade noch von der Schaufel springen. Der Gemeinde ist es gelungen, 1,2 Millionen Euro an Spenden aufzutreiben, wovon das Gotteshaus saniert werden kann. Eine Garantie, dass Epiphanias weiterlebt, ist dieser Scheck allerdings noch nicht, betont Dekan Hartmann. Erst wenn die Gemeinde unterschriebene Verträge vorlegt, wodurch sich die Kirche künftig selbst finanziert, kann die grazile Flachdachbau bleiben.

Dass Neunutzungen von Sechziger-Jahre-Kirchen durchaus lebensfähig sein können, beweist das Veranstaltungszentrum "PX de Dom" in Mannheim-Sandhofen. Früher hieß es Jakobus-Kirche. Wo bis 2010 der Altar stand, findet sich jetzt eine Bühne, davor 200 Sitzplätze und bunte Bodenlichter. Es gibt Jazz, Tanzmusik und Kleinkunst. Auch die Stephanus-Kirche in Mannheim-Schönau hatte Glück. Sie gehört jetzt dem "Christlichen Zentrum Mannheim", das sich zur Pfingstbewegung zählt.

Trinitatis, Helmut Strifflers Meisterwerk in der Mannheimer Innenstadt, hat es als eine von ganz wenigen Beton-Kirchen in die oberste Denkmalschutz-Kategorie geschafft: "Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung". Doch Gottesdienste gibt es in Trinitatis schon seit zehn Jahren nicht mehr. Die Gemeinde fehlt. In den G-Quadraten leben heute fast nur noch türkischstämmige Mannheimer.

Dekan Ralph Hartmann würde sofort profanieren, wenn nur endlich jemandem einfallen würde, wozu man die Kirche nutzen kann. "Wir haben schon alles ausprobiert vom Konzertsaal bis zum Friedhof." Jetzt setzt man auf Entspannung. "Wir suchen nicht mehr krampfhaft nach einer langfristigen Lösung", erklärt der Dekan, "sondern sind bereit, Experimente zu wagen." Sofern diese nicht zu profan sind. "Eine Markthalle in Trinitatis kann ich mir nicht vorstellen."

Eine Gemeindekirche ohne Gemeinde

Der Denkmalschutz wohl auch nicht. Aber der interessiert sich momentan sowieso nicht für Trinitatis. Sie ist ja schon klassifiziert. Im Gegensatz zu all den anderen Beton-Kirchen, die derzeit im Eilverfahren verkauft, abgerissen oder umgebaut werden. Nach Kriterien, welche diese Gebäude aus Sichtbeton, Faserzement und Glas schützenswert sind, sucht man bislang vergebens. "Kühne Architekturen wurden geschaffen. Sie haben neue, ja besondere Qualitäten", beschwor kürzlich die Stuttgarter Konservatorin Simone Meyder ihre Kollegen im Nachrichtenblatt des Landesdenkmalamtes. "Es ist höchste Zeit, die bauhistorisch bedeutenden Gebäude zu erkennen, zu benennen, ihre Denkmalwerte zu erarbeiten und zu vermitteln."

Der Kunsthistoriker Hans Gercke hat als Leiter des Heidelberger Kunstvereins jahrzehntelang die Avantgarde an den Neckar geholt. Jetzt im Ruhestand widmet er sich den Kirchen. Sein Liebling: St. Paul auf dem Heidelberger Boxberg. Wegen der Radikalität ihrer Architektur. "In dieser Kirche gibt es nichts Überflüssiges. Ein perfektes Zusammenspiel von Beton, Licht, Holz und Pflaster."

Der Boxberg ist ein Wohngebiet komplett aus Sichtbeton, das ab 1962 am Hang des Königstuhls gebaut wurde. Die katholische Kirche St. Paul hat der Heidelberger Architekt Lothar Götz entworfen. Als hermetisch abgeschlossenen Block ohne Turm, Tür und Fenster. Die schwere Eingangstür, die man nur durch den Hof des Pfarrzentrums erreicht, mündet in einen spärlich beleuchteten Vorraum. Noch eine scharfe Linkskurve, dann liegt dem Besucher der gewaltige Kirchenraum zu Füßen. "In Japan sagt man, dass böse Geister nicht um Ecken gehen können", lächelt Hans Gercke.

Ruppiges Kleinod oben am Berg

St. Paul gleicht einem Amphitheater. Die eleganten Holzbänke, die 500 Gläubigen Platz bieten, sind halbkreisförmig angeordnet. Wie in einem Hörsaal senkt sich der Boden sanft hinunter zum frei stehenden Altar. Er ist aus demselben Fels gehauen wie das Straßenpflaster, mit dem der Innenraum belegt ist. Ein griechisches Forum. Das innovativste Detail jedoch ist die Decke aus Glas. Das von oben einfallende Tageslicht trifft auf ein imposantes Raster aus reflektierendem tropischen Holz. Moderner geht es nicht. "Der silbergraue Beton hat seine eigene Schönheit", findet Hans Gercke. "Sehr streng, sehr karg, ideal zum Beten."

Schade eigentlich, dass St. Paul meist im Verborgenen blüht, dort oben auf seinem Berg. Auch dem Denkmalschutz ist dieses ruppige Kleinod bislang noch nicht aufgefallen. Vielleicht sollte man Karlsruhe ja mal einen Hinweis geben.

Im Odenwald ist Ruhe eingekehrt. Der Turm von St. Paulus in Lohrbach strebt noch immer wie ein Keil gen Himmel. Die schlimmsten Schäden an der Kirche haben die Dorfbewohner inzwischen in Eigenregie ausgebessert. "Das hält für die nächsten dreißig Jahre", sagt Wolfgang Roth. Der Rechtsanwalt ist Mitglied im Stiftungsrat der neuen großen Seelsorgeeinheit "MOSE", die am 1. Januar 2015 aus Mosbach und "Elz-Neckar" gebildet wurde. 13000 Katholiken, sieben Pfarreien, vierzehn Kirchen, zwei Priester. Der Stiftungsrat von MOSE hat jetzt die undankbare Aufgabe, eine Machbarkeitsstudie über alle Liegenschaften zu erstellen. Dazu gehört auch St. Paulus in Lohrbach. Die Kirche steht seit 1976 Denkmalschutz. Fortsetzung folgt.