"Stefan Raab war der letzte Diktator"
Der Unterhaltungskünstler über das Glück des Schreibens und die Angst der Fernsehmacher

Von Olaf Neumann
Jürgen von der Lippe ist einer der bekanntesten deutschen Unterhaltungskünstler. Im Laufe seiner seit über 40 Jahren andauernden Karriere wurde der Komiker und TV-Moderator mit einer Vorliebe für Hawaiihemden mit den wichtigsten Fernsehpreisen ausgezeichnet. Heute ist er kaum noch im TV zu sehen, weil er "diese Mechanismen" nicht mehr erträgt. Stattdessen geht von der Lippe regelmäßig auf Theatertour oder schreibt Bücher. Sein literarisches Langform-Debüt "Nudel im Wind" wird als "erster Sitcom-Roman der Weltgeschichte" und "Medienkrimigroteske" gehandelt.
Am Anfang von "Nudel im Wind" heißt es, dass Sie sich zuhause fühlen "in der Psyche der Sanftmütigen, Unscheinbaren mit ihren kleinen liebenswerten Macken". Ist damit die Fernsehbranche gemeint?
Man darf mich nicht bei jeder Wendung fragen, wie ich darauf gekommen bin. Textproduktion ist ein Mysterium. Ich wollte einfach einen einigermaßen originellen Anfang schreiben. Mehr ist es nicht.
Hintergrund
BIOGRAFIE
Name: Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp
Geboren am 8. Juni 1948 in Bad Salzuflen, aufgewachsen in Aachen.
Familie: Sein Vater war Barkeeper in einer Striptease-Bar, seine Mutter war
BIOGRAFIE
Name: Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp
Geboren am 8. Juni 1948 in Bad Salzuflen, aufgewachsen in Aachen.
Familie: Sein Vater war Barkeeper in einer Striptease-Bar, seine Mutter war Köchin.
Ausbildung: Nach dem Abitur 1966 Offizierausbildung bei der Fernmeldetruppe; verließ die Bundeswehr im Rang eines Leutnants. Ab 1970 Studium Germanistik, Philosophie und Linguistik auf Lehramt in Aachen und Berlin (nicht abgeschlossen).
TV-Karriere: Ab 1984 "So isses", "Donnerlippchen", zwischen 1989 und 2001 "Geld oder Liebe", ab 1995 "Wat is?".
Bühne: Diverse Bühnenprogrammen, in denen er gerne Prominente parodiert. In Erinnerung ist der Streit mit Peter Maffay. Hit: "Guten Morgen, liebe Sorgen" (1987).
Auszeichnungen: Lippe hat so ziemlich jeden großen Preis, den es in Deutschland zu gewinnen gibt, für seine Kunst bekommen: Goldene Schallplatte, Bambi, Telestar, Goldene Kamera, Grimme-Preis, Goldene Romy.
Privat: Lippe war von 1986 bis 1988 in zweiter Ehe mit der Moderatorin Margarethe Schreinemakers verheiratet und lebt heute wieder mit seiner ersten Ehefrau Anne Dohrenkamp zusammen. Sie leben in Berlin.
Ihr Protagonist Justus Lenz ist ein Ex-Zuhälter mit "goldenem Herzen". Gibt es für ihn ein Vorbild?
Auch interessant
Ich kenne relativ wenige Zuhälter. Wegen dieser Figur bezeichne ich mein Buch als Medienkrimigroteske. Vieles ist stark überzeichnet. Eine Satire hingegen will etwas anprangern, das will ich nicht. Meine Sympathien sind beim Personal der TV-Schaffenden verteilt. Ich habe das Ganze im Fernsehen spielen lassen, weil ich mich da einigermaßen auskenne.
Entwirft Ihr Roman ein Spiegelbild der Gesellschaft?
Ich weiß nicht, ob man irgendeine Arbeit als Spiegel der Gesellschaft bezeichnen kann. Es ist ja ein künstliches Biotop, das wenig mit dem zu tun hat, was einen Menschen wirklich umtreibt. Mein Hauptanliegen ist, dass die Leser sich nicht langweilen. Für einen Roman habe ich eine hohe Gag-Dichte angestrebt. Es soll aber auch spannend und interessant sein. Man soll die Figuren durchaus mögen oder hassen, ohne dass ich mich übertrieben lange an der psychologischen Feinzeichnung aufhalten möchte.
Wie haben Sie sich in die weiblichen Charaktere hineinversetzt - zum Beispiel in die blitzgescheite, attraktive Visagistin Lisa Haiter, die Psychologie und Theaterwissenschaften studiert hat?
Sie ist wahnsinnig attraktiv, aber das reicht ja nicht als Beschreibung eines Menschen. Deswegen habe ich ihr ein paar Attribute zugeordnet, die man nicht vermuten würde. Das macht den Reiz dieser Figur aus; vor allen Dingen, weil sie den erfolgreichen TV-Produzenten Hermjo Benek-Söderbaum auf Granit beißen lässt, der das Zerrbild eines Machos ist.
Ihre Frau wollte den sexuellen Spielraum der weiblichen Hauptfigur einengen. Hat sie sich wirklich ins Schreiben eingemischt?
Das ist ja nicht meine Frau im Roman, das ist nur eine Figur einer zweiten Erzählebene. Ich fand es witzig, dass eine Frau versucht, massiv Einfluss zu nehmen. Ich habe sie ein bisschen konservativ sein lassen, aber diese Figur hat mit meiner realen Frau nichts zu tun. Natürlich steckt in vielen meiner Geschichten etwas von mir drin, aber das sind in erster Linie meine Interessensgebiete. Ich habe zum Beispiel Boxen und Kampfsport gelernt, ich koche gerne und habe Spaß an Wortspielen.
Hätte eine "Speckweg-Show" mit Schachboxspektakel, wie Sie sie im Buch beschreiben, in der realen Fernsehwelt eine Chance auf Umsetzung?
Nein, sie wäre viel zu teuer. Da habe ich mir eine Sendung zusammengeträumt, die ich persönlich schön fände. Das ist wie ein Western, bei dem aus einem Sechsschüsser 120 Kugeln abgefeuert werden.
Das gängige Klischee: Beim Fernsehen sind alle zynisch und koksen pausenlos.
Es gibt ja nicht nur beim Fernsehen Leute, die koksen! Ich habe Schwein, dass mir das Zeug nie angeboten wurde. Konstantin Wecker schrieb vor Jahren, Koks gäbe einem das Gefühl, besser kreativ sein zu können. Um Gottes willen, da wäre ich wahrscheinlich sehr anfällig! Das ist eine große Versuchung für jeden Kreativen.
Was ist Ihre Kreativdroge?
Meine Antennen sind immer ausgefahren. Ich beobachte zum Beispiel unglaublich gerne Leute in der U-Bahn und stelle mir ihr Leben vor. Dadurch, dass ich mich bemühe, jeden Tag zu schreiben, habe ich wahnsinnig viele angefangene Geschichten. Mein eigentliches Arbeitszimmer kann ich schon gar nicht mehr betreten, weil die Stapel mit Zeitungsausschnitten immer höher werden. Wenn mir mal partout nichts einfällt, gucke ich mir meine angefangenen Texte an. Und irgendwann fällt mir eine Fortsetzung in den Schoß.
Wo gibt es heute im TV noch "echte Charaktere mit Ecken, Kanten und Brüchen"?
Die gibt es überall. Ich gehöre noch zu den Leuten, denen man eine kreative Genieleistung zutraute. Ich hatte einen Unterhaltungschef, der sagte: "Ach, Sie wollen ’Donnerlippchen’ nicht weitermachen? Das ist aber schade. Dann lassen Sie sich mal was einfallen’!" Diesen Satz wird heute niemand mehr hören.
Woran liegt das?
Heute reden Leute mit, die weder auf einer Bühne gestanden haben, noch besonders komisch sind. Jeder Psychologe weiß, dass Brainstorming Quatsch ist. Was machen sie aber beim Fernsehen? Brainstorming! Die zerreden jeden Einfall. Stefan Raab war der letzte Diktator, der seine eigenen Sendungen erfinden durfte. Und er hat verdammt gute gemacht.
Welches war die absurdeste Show, in der Sie jemals aufgetreten sind?
Ich erinnere mich an Oliver Pochers erste Show, in der ich zu Gast war. Er hatte sich vorgenommen, dass ich Bullenhoden vorbereite und er wollte davon probieren. Das Fleisch ist unheimlich zäh, aber wir hatten überhaupt kein ordentliches Messer. Olli meinte, ich solle den Hoden ganz braten, aber das hätte drei Stunden gedauert. Irgendwie habe ich ihn ein bisschen klein gekriegt und innen war er sicherlich noch roh, aber Olli war wild entschlossen, ihn vor der Kamera zu essen. Das hat er dann auch gemacht.
Womit trifft man heute den Nerv der Zuschauer?
Ich weiß es nicht, deswegen muss man ja ausprobieren! Wie viele Überraschungserfolge haben wir? Das, was mir Spaß macht, ist möglicherweise nicht mehr der Mainstream. Christian Ulmen und Fahri Yardim haben sich mit "Jerks" wirklich was getraut. Ich habe den Comedian Maxi Gstettenbauer gefragt, ob seine Szene bei "Jerks" wirklich improvisiert war. Maxi erzählte mir, dass sie fünfmal ohne Textvorgabe gespielt wurde. Und daraus hat Ulmen dann die Szene geschnitten. Das ist natürlich super.
Haben Sie die Filmrechte an "Nudel im Wind" eigentlich schon verkauft?
Nein, aber es wäre schon schön, wenn Til Schweiger anriefe.
Können Sie sich nach diesem Buch überhaupt noch bei den Sendern blicken lassen?
Das hat mein Lektor auch gefragt. Er wunderte sich, dass ich so hart sein kann. In der Regel ist ein TV-Redakteur einfach keine Hilfe. Die haben ja alle Angst. Wir stehen auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden. Wir Kreativen wollen etwas machen und die Redakteure wollen sich gegenüber dem Sender absichern. Entweder heißt es: "Das ist zu teuer" oder "Das will unser Publikum nicht sehen". Letzteres ist eine erbärmliche Allzweckwaffe, die mich rasend macht.
Info: Jürgen von der Lippe: Nudel im Wind (Roman); Penguin Verlag, 240 Seiten, 18 Euro. Das Hörbuch ist erschienen bei Random House, 15 Euro.