Heidelberger Theater

Eine klassische Blutorgie im Schnee

Agatha Christies Krimiklassiker "Mord im Orientexpress" hatte Premiere. Eine Zugfahrt auf vollen Touren.

03.04.2023 UPDATE: 03.04.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 29 Sekunden
Abgefahren – und beim Publikum angekommen: Steffen Gangloff im „Mord im Orientexpress“. Foto: Susanne Reichardt

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Die Legende lebt und rollt auf die Bühne des Heidelberger Theaters. Die berühmte Zugfahrt von Istanbul nach Calais macht nun im Marguerre-Saal Station. Christian Breys Inszenierung von Agatha Christies 1934 erschienenem Krimiklassiker "Mord im Orientexpress" – in der Bühnenfassung von Ken Ludwig – bietet einen sehr unterhaltsamen Abend. Als älteres Semester hat man freilich Sidney Lumets mit Topstars gespickten Kinofilm aus dem Jahr 1974 vor Augen. Gleichwohl gelang nun in Heidelberg ein ganz eigenständiger Zugriff auf den legendären Stoff.

So steigt man am Bosporus erneut in den Luxuszug der Compagnie Internationale des Wagons-Lits und fährt äußerst komfortabel los – bis der Express auf einem jugoslawischen Pass in einer Schneewehe steckenbleibt und ein amerikanischer Geschäftsmann durch eine brutale Blutorgie mit zahlreichen Messerstichen ins Jenseits befördert wird. Zufällig mit an Bord ist der weltberühmte Privatdetektiv Hercule Poirot, der die Aufklärung des Falles in die Hand nimmt: Wer auch immer die Tat begangen hat, muss noch anwesend sein. Während draußen ein dichtes Schneegestöber tobt, muss sich der Belgier drinnen durch ein wahres Gestöber aus rätselhaften Indizien und falschen Fährten kämpfen.

Aber der eigentliche Star des Abends ist doch der Orientexpress selbst – wahrlich ein opulentes "Gedicht auf Rädern". Schon wie er aus dem Dunklen mit seinen drei Stirnleuchten anrollt und in Istanbul in edlem Blau mit goldener Aufschrift vor der Hagia Sophia steht, ist so stimmungs- wie eindrucksvoll (Bühne und Kostüme: Anette Hachmann). Und dann das noble Interieur des Waggons, bestehend aus einer Voiture Restaurant und einer Voiture Lit mit den Schlafabteilen. Die Ausstattung hat Stil wie Klasse und ist überdies so raffiniert gestaltet, dass trotz aller Enge ein komplexes Verbrechen aufgeklärt werden kann. Schließlich macht es ausgefeilte Drehbühnentechnik möglich, die schicksalhaft abgründige Winterreise in ihren vielen Facetten mitzuerleben.

Die Passagiere bilden eine so illustre wie bunte Eisenbahngemeinschaft mit zum Teil exzentrischen Figuren. Aber alle sind verbunden durch ein dunkles Geheimnis, die traumatische Erinnerung an einen katastrophalen Kindermord. Und es ist die Aufgabe von Hercule Poirot, Licht in diese Finsternis zu bringen. Dabei zeichnet Hendrik Richter den französisierenden Meisterdetektiv, der gerade auf dem Weg zu Scotland Yard in London ist, wunderbar verschroben-genial mit abgefahrenen Ermittlungsmethoden: Beispielsweise kann er auf einem verbrannten Zettel die Schrift derart deutlich wiederherstellen, dass sie sogar für das Publikum zu lesen ist. Und Poirots Probleme mit der Aussprache des Buchstabens "h" werden zum Running Gag. Gleichwohl zeigt Richter den schrägen Schnüffler bei aller Skurrilität auch als Charakter mit Tiefgang.

Auch interessant
Heidelberg: Herrlich skurrile "Liebe zu den drei Orangen"
Theater Heidelberg: Das sind die Pläne für die Saison 2022/23
"Kulturhauptstadt" Heidelberg?: Kritik an OB Würzners Prestigeprojekt und Alleingang

Dieser bekommt es vor allem mit einer undurchsichtigen Damenriege zu tun. Da ist zunächst die alternde Filmdiva Helen Hubbard, die Christina Rubruck mit viel Nonchalence und Lakonik über die Rampe bringt. Nicole Averkamp ist die betagte, jedoch resolute Exilrussin Prinzessin Dragomiroff. Bei Katharina Quasts Darstellung der Missionarin Greta Ohlsson wird man am stärksten an die Sidney Lumet-Verfilmung erinnert, in der Ingrid Bergman diese Rolle spielt und dafür einen Oscar erhielt. Allerdings bietet Quast das schwedische Dialekt-Staccato entschieden forcierter, nicht selten nahe der Hyperventilation. Komplettiert wird das Quintett durch Lisa Förster als elegante Britin Mary Debenham und Esra Schreier als "schön scharf" aussehende ungarische Gräfin Andrenyi.

Unter den männlichen Parts ragt Benedict Fellmer als französischer Schaffner Michel klar heraus. Der schlichte Angestellte präsentiert sich immer wieder als virtuoser Dirigent grotesker Gemengelagen, in denen er Sekunden nervenzehrend in die Länge zu dehnen vermag. Hans Fleischmann gibt den abgrundtief gehassten Samuel Ratchett, dessen Sekretär Hector MacQueen von Jonah Moritz Quast vorgestellt wird. Steffen Gangloff ist Monsieur Bouc, Direktor der Eisenbahngesellschaft, und Marco Albrecht verkörpert den britischen Oberst Arbuthnot.

Zur rhythmischen Musik von Tobias Cosler sorgen alle Beteiligten mit viel Schwung und Situationskomik dafür, dass der Heidelberger "Orientexpress" rasch Fahrt aufnimmt und schließlich auf volle Touren hochdreht. Und wenn dann der Zug mit Karacho in die Schneewehe rast, beginnt eine nicht minder spannende Reise in psychische Innenwelten.

Für die ab 14 Jahren empfohlene Aufführung gab es jubelnden Applaus mit Bravorufen.

Info: Nächste Termine: 9., 20., 25. April; 13. Mai.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.