Heidelberger Stückemarkt

Ein eigenes Heim im zerfallenden Europa

Der Europäischer Autorenwettbewerb zeigt beim Stückemarkt die Vielfalt der litauischen Theaterszene.

10.05.2021 UPDATE: 11.05.2021 06:00 Uhr 2 Minuten, 3 Sekunden
Mit einer Nähmaschine in den Händen: Szene aus dem litauischen Stückemarkt-Beitrag „Regenland“, gezeigt als digitales Gastspiel. Foto: Theater

Von Elisabeth Maier

Heidelberg. Litauisches Theater und Drama sind auch in der deutschen Szene im Kommen. Dem trug der Heidelberger Stückemarkt mit der Auswahl des baltischen Gastlandes Rechnung. Beim internationalen Autoren- und Autorinnenwettbewerb zeigten die drei Gäste mit ihrem Stücken, wie nah die Themen in Europa beieinanderliegen. Dass mit Gabriele Labanauskaités "Immobiliendrama” ein Stück den europäischen Wettbewerb gewonnen hat, das den globalen Kapitalmarkt in den Blick nimmt, offenbart diese Gemeinsamkeiten besonders griffig. Mit ihrer Auswahl zeigt die Kuratorin Gierdré Liugaité die Berührungspunkte und Vielfalt der Theaterszene in dem baltischen Land.

In dem Land, das 1990 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte, gibt es eine blühende Theaterszene. Doch die wirtschaftliche Lage vieler Künstlerinnen und Künstler ist gerade jetzt prekär. "Durch die Pandemie ist der Betrieb gerade in der freien Szene stillgelegt, viele Autorinnen und Autoren müssen um ihre Existenz kämpfen”, sagt die Kuratorin Liugaité. Explizit politisch sei das Theater in Litauen nicht, findet die Fachfrau. Dennoch überzeugte in den drei Stücken der wache Blick auf die Gegenwart. Die Suche nach einer Identität und nach einem Halt in der zerfallenden europäischen Gesellschaft zieht sich wie ein roter Faden durch die sehr unterschiedlichen Texte, die bei den drei Lesungen zu erleben waren.

Um die Suche nach einer Identität, nach einem Halt in der Gesellschaft geht es im Stück "Identify” von Ieva Stundzyté. Die acht Figuren sind Kinder ihrer Zeit, die nach einem erfüllten Leben suchen. Sex, Job und Beziehungen aber befriedigen diese Bedürfnisse nicht mehr.

Die Autorin spielt in der Szenenfolge, in der die einzelnen Handlungsstränge schwer zu entwirren sind, mit Erfahrungswelten ihrer eigenen Generation. Damit spiegelt sie die Zeiterfahrung der Menschen, die nach der Ablösung vom sowjetischen System nach ihrem Platz in der europäischen Gesellschaft tasten. Diese aber ist ebenfalls vom Zerfall geprägt. Trotz formaler Schnörkel klingen Stundzytés Dialoge sehr authentisch. Sie ist Mitglied des Theaters "Open Circle” (Teatras Atviras Ratas).

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Dieses Theaterlaboratorium arbeitet mit Interviews und Erfahrungsberichten. In der Produktion "Regenland”, die beim Stückemarkt als digitales Gastspiel zu erleben war, hat der Regisseur Aidas Giniotis mit dem Ensemble die Vergangenheit des baltischen Landes im Nationalsozialismus aufgearbeitet. "Erinnerungen und Interviews aus den Familien der Spielerinnen und Spieler sind eingeflossen”, beschrieb der Regisseur die besondere Arbeitsweise des Theaterlaboratoriums. Dieses Konzept verfolgt auch die Autorin von "Identify”. Dokumentarische Tiefenschärfe macht ihren Text überzeugend. Um ein nicht verarbeitetes Jugendtrauma geht es in "Mütter und Söhne” von Matas Vildzius. Ausgangspunkt ist ein nicht verarbeitetes Familiendrama. Der Tod der Mutter stellt die Beziehung des Mannes zu seiner geschiedenen Frau auf den Prüfstand. Das dunkle Geheimnis arbeitet der Autor in einer fesselnden Geschichte auf. Die dunklen Fäden einer nicht verarbeiteten Vergangenheit webt er in das Beziehungsdrama, in dem es um den Verlust einer gemeinsamen Sprache geht.

Weniger als eine Existenzfrage erscheint zunächst die Wohnungssuche einer Frau, die auf eigenen Beinen stehen möchte. Mit viel schwarzem Humor zeichnet die Autorin Gabriele Labanauskaité die Sehnsucht ihrer Protagonistin nach den eigenen vier Wänden nach. Ihre spielerische Dramaturgie dringt zu den wesentlichen Problemen vor. Zugleich ebnet ihr ironischer Blick den Weg für eine erfrischende Kapitalismuskritik. Wie dicht die Erfahrungswelten in Europa zusammenliegen, spiegelt die Autorin und Literaturwissenschaftlerin stark. Zugleich zeigt sie in dem Stück, wie Menschen im kapitalistischen System zermahlen werden.

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