Heidelberger DAI

Mit glasklarem Blick auf die Ereignisse der Zeit

Thomas Meyer präsentierte im Heidelberger DAI seine Biografie über die Philosophie-Ikone Hannah Arendt.

27.10.2023 UPDATE: 27.10.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 31 Sekunden

Von Heribert Vogt

Heidelberg. "Es war schnell, in einer Zeit, die rasend war und die Menschen mitriss." Das sagte der Münchener Philosoph und "Ideenhistoriker" Thomas Meyer über das Leben der weltberühmten jüdischen Philosophin Hannah Arendt, als er im Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg seine Biografie der Denkerin vorstellte. Sicherlich kann man sagen, dass Arendt durch ihre Omnipräsenz in Wissenschaft und Kultur während der letzten Jahrzehnte eine der wirkungsstärksten Personen der gesamten Heidelberger Wissenschaftstradition war. Und so spielt Heidelberg auch in der neuen Biografie eine "große Rolle", wie Meyer im Gespräch mit Ingrid Stolz darlegte. Das begann schon mit Arendts Doktorvater Karl Jaspers, der ihre Dissertation über den "Liebesbegriff bei Augustin" zunächst nicht annehmen wollte. Später jedoch entwickelte sich eine enge freundschaftliche Dreierbeziehung zwischen Jaspers, seiner jüdischen Frau Gertrud und Hannah Arendt.

Nachfolgend blendete Meyer in der Lebensgeschichte der Philosophin (1906-1975) immer wieder vor und zurück. Zunächst besuchte sie einen jüdischen Kindergarten in Königsberg. Dort gehörten die Arendts zum gehobenen Mittelstand. Man war gebildet und offen jüdisch. Am 25. August 1896 wurde in der Stadt die große liberale Synagoge eingeweiht – ein Höhepunkt jüdischer Emanzipation. Und im Zentrum Königsbergs gab es mit dem "Haus des Buches" die größte Buchhandlung Europas. Hannah Arendts folgende Jahre waren von diversen Schulwechseln geprägt.

Thomas Meyer. Foto: A. Hornoff

Später schaute sie auf das vollständig zerstörte, von den Nazis zur Festung ausgebaute Königsberg – das spätere Kaliningrad – nie melancholisch zurück. Sie empfand keine Nostalgie an Erinnerungsorte wie auch Heidelberg. Aber hier hatten die Philosophen Karl Löwith oder Hans-Georg Gadamer die Dissertation der früheren Marburger Kommilitonin in ihren Bibliotheken. Insgesamt hatte Hannah Arendt "einen glasklaren Blick auf das Vergangene und das Gegenwärtige". Den letzteren Begriff im Sinne von Karl Jaspers wählte sie als Motto für ihr 1951 publiziertes und vier Jahre später überarbeitetes Hauptwerk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft". Sie verfolgte das Ziel, "immer gegenwärtig zu sein, sich weder dem Vergangenen noch Zukünftigen auszuliefern".

Hannah Arendt aber "dehnte" die Gegenwart, bis hin zu den Griechen und bis in ihre eigene Zeit hinein. Im ersten Teil seines Buches versucht Meyer, diese Dehnung der Gegenwart zu beschreiben – von der Familiengeschichte in Königsberg bis in die 1950er Jahre. Da war die Denkerin etabliert, erfolgreiche Publizistin und Eigentümerin einer New Yorker Wohnung mit einem herrlichen Blick über den Central Park. Sie war international anerkannt, wenn auch auf kontroverse Weise. Der zweite Teil des Buches enthält verschiedene Perspektiven auf ihre Person und ihre Zeit. Dabei geht es etwa um das Verhältnis zu Literatur, Feminismus oder Martin Heidegger, dessen "kurzzeitige Geliebte" die junge Arendt war.

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Aus dem "Heidelberger Milieu" kamen auch zur Sprache der Soziologe Karl Mannheim, der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger oder der Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf, bei dem Arendt eine Klopstock-Vorlesung hörte. In Karl Mannheims späterem Frankfurter Umkreis beschäftigte sie sich mit dem Liberalismus und der jüdischen Frage. Es war dann die Philosophin Leopoldine Weizmann, die ebenfalls in Heidelberg studiert hatte und wie Arendt "sehr nahe an Martin Heidegger dran" gewesen war, welche die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und "sozialer Arbeit" aufwarf. Die beiden Frauen erkannten bei ihren Lehrern eine "gigantische Kluft" zwischen dem Denken und dem praktischen Handeln. Vor allem, als es 1934 in Paris konkret darum ging, viele jüdische Kinder und Jugendliche zum Aufbau nach Palästina zu bringen. Und bei dieser Unternehmung steckte Hannah Arendt mittendrin.

Meyer will die Philosophie-Ikone insbesondere auch als Handelnde darstellen. Diesbezüglich gibt es für ihn in der Philosophiegeschichte kein anderes Beispiel. Mit ihrem Buch "Vita activa oder Vom tätigen Leben" hat sie dem handelnden Menschen ein Denkmal gesetzt. Im zweiten Teil dieses Werks mit dem Titel "Über die Revolution" versucht sie, dem Spirit der USA auf die Spur zu kommen. Arendt wurde auch zur Theoretikerin von Kolonialgewalt, stand dann aber doch ratlos vor dem "Abgrund Auschwitz". Ihr Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" wird bis heute kontrovers diskutiert.

Info: Thomas Meyer: "Hannah Arendt. Die Biografie". Piper Verlag, München 2023. 528 Seiten, 28 Euro.

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