Wenn Dahlien zu Knochenstängeln werden
Amelie Russana verarbeitet in ihrer eindrucksvollen Ausstellung "Bergamo 1" das Grauen der Pandemie.

Von Moritz Mayer
Heidelberg. Bergamo im Frühjahr 2020. Eine Kolonne von Militärfahrzeugen verlässt die Stadt. Beladen mit Holzsärgen, auf dem Weg in ein noch freies Krematorium. Bilder, die sich in unser Gedächtnis eingebrannt haben. Es war der Beginn der Corona-Pandemie in Europa, niemand wusste, wie die Welt in ein paar Wochen aussehen würde. Es war dieser Moment, der bei Amelie Russana alles schwarz werden ließ. "Der Raum, aus dem ich sonst künstlerisch schöpfe, war dunkel. Ich sah nichts – es war, als seien mir alle Sinne geraubt worden." Diese Erfahrung versucht sie jetzt in einer Ausstellung zu verarbeiten. Ihre Arbeit in der Heidelberger Steingasse nennt Russana "Bergamo 1". Das Werk ist 11,20 Meter lang und fast zwei Meter hoch.
"Nach und nach tauchten Punkte auf, und die Dunkelheit des Raumes bekam Risse", versucht Russana zu erklären. Sie will den Betrachtenden so nah wie möglich mitnehmen. Dorthin, wo sie selbst war, als ihr die Idee zu "Bergamo" kam. Hört man sie so sprechen, könnte man annehmen, dass nach der Dunkelheit ein Big Bang kommt – ein neuer Urknall. Aber der stünde ja für neues Leben. Ist da also auch Hoffnung in der Dunkelheit?
Die aneinandergereihten Leinwände sind alle in Blautönen gehalten und zeigen Dahlienblüten in einer warmen Nacht. Ihre Malerei ist für Russana Poesie, was man im Vorübergehen auch spüren kann. Ist die Dunkelheit der blaugefärbten Nacht nun vorüber? Nein, da stimmt doch etwas nicht … Die Blüten verblühen bereits. Das Blattwerk fehlt vollständig, die Blüten sehen mehr aus wie Spinnenbeine und weniger wie Dahlien. Während der Blick über die Malerei wandert, verwandeln sich die Blütenstängel in etwas Knochiges. Es sieht aus, als seien es menschliche Knochen und Gelenke, überkommt einen die Erkenntnis. Dahin der schöne Nachtspaziergang! "Ich habe die Brutalität der Begegnung erfahren und in mir die Dringlichkeit gespürt, dass die pandemische Betrachtung mehr ist als nur Zahlen und Fakten", fühlt Amelie Russana nach.
Wie die Infektionswellen türmen sich nun die Knochenstängel der Dahlienblüten auf – und reißen alles mit sich. Auch die Person, die das Werk betrachtet. Es ist, wie an einem Feld von Ruinen menschlicher Überreste vorbeizugehen. Aber die Schlacht ist bereits geschlagen und verloren. Hilflosigkeit mündet in einen Fluss tiefer Traurigkeit. Die Arbeit saugt einen regelrecht ein – und doch ist es möglich, an der Leinwand vorbeizugehen. Paradoxerweise ist das einzig Lebendige man selbst. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Hey, ich selbst bin nicht das Opfer dieser Malerei – es sind nicht meine Knochen, die dort zu sehen sind. Und doch sind es menschliche Überreste von denen, die Bergamo nicht lebend verlassen haben.
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Wo ist der Samen der Dahlien in Russanas Malerei? Es kann doch nicht alles vorbei sein. Doch nichts kommt mehr. Diese Gewissheit stellt sich am Ende des Rundgangs ein. Es wird keine neuen Sprösslinge geben. Es gab keinen neuen Big Bang, wie zu Beginn erhofft. Es gab nur einen Knall und dann – nichts. Man ist einsam in der Nacht. Die Malerei zeigt nur tote Blütenkörper und am Ende das große Nichts.
Es gehe ihr darum, Dinge auszudrücken, die noch nicht formuliert sind, nimmt Amelie Russana Bezug auf ihre aktuelle Arbeit. Sie will "Spuren hinterlassen" und diese lassen sich in der Ausstellung eindrücklich verfolgen. So stark, dass beim Verlassen der Ausstellung der Raum noch dunkler wirkt als zuvor. Noch beängstigender. Es schauert fast, wieder den Blick nach hinten zu richten. Doch es wird sich lohnen, denn auf den absoluten Todeszustand gibt Amelie Russana ein Versprechen: "Es gibt ab Ende Juli ,Bergamo 2‘ – die Zwillingsmalerei – und dort wird auf der Leinwand deutlich mehr Licht zu sehen sein."
Info: Die Ausstellung "Bergamo 1" von Amelie Russana ist in der Steingasse 10 in Heidelberg noch bis zum 24. Juli zu sehen. Anschließend zeigt sie bis 11. September "Bergamo 2". Öffnungszeiten Mi-Fr 12-14 und 15-18 Uhr; Sa-So 11-14 und 15-18 Uhr. Termine außerhalb der Öffnungszeiten können jederzeit vereinbart werden. Der Eintritt ist kostenlos.