Zwinger1 Heidelberg

Störung in "Area 17"

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte: Eine Kammeroper nach Oliver Sacks von Michael Nyman in Heidelberg.

16.05.2022 UPDATE: 17.05.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 9 Sekunden
Mit dem Karo-Buben in der Hand: Chaz’men Williams-Ali als Dr. S. Foto: Susanne Reichardt

Von Matthias Roth

Heidelberg. Dr. P. ist ein gebildeter, eloquenter Herr in den "besten Jahren" und in guter beruflicher Position. Als Sänger und Musiklehrer weithin bekannt, elegant in der Erscheinung, als Ehemann glücklich und als Hobbymaler engagiert. Ein Traummann, der gar nicht weiß, warum er bei dem Arzt Dr. S. vorsprechen soll, zu dem man ihn überwiesen hat. Denn sein Gesundheitszustand scheint mehr als zufriedenstellend. Dass er einen seiner Studenten nicht wiedererkannte und stattdessen den Notenständer begrüßte – nun ja, ältere Menschen entwickeln gelegentlich einen skurrilen Humor. Als Dr. P. allerdings nach der Untersuchung vorgibt, seinen Fuß für seinen Schuh zu halten und schließlich statt nach seinem Hut, nach dem Kopf seiner Frau greift, da wird deutlich, dass mit ihm doch etwas nicht stimmen kann.

Der britische Neurologe Oliver Sacks publizierte 1985 einige kuriose Fallbeispiele aus seiner Praxis unter dem Titel "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" (dt. 1989) und landete damit international einen großen Erfolg. Die Titelgeschichte dieser Sammlung handelt von visueller Agnosie und ist eine Läsion des Okzipitallappens im Gehirn, genauer: eine Störung der "Area 17" (Area striata, Sehzentrum), auch "Seelenblindheit" genannt. Sie bewirkt, dass Gesichter nicht mehr als Gesichter, Landschaften nicht als Landschaften oder Alltagsgegenstände nicht mehr in ihrer Funktion erkannt werden. So kann der Musiker Dr. P. weder New York als Stadt erkennen, noch einen Handschuh als solchen identifizieren. Aber singen kann er noch, und im Schachspiel schlägt er seinen Arzt sogar im Blindspiel.

Der ebenfalls britische Komponist Michael Nyman erkannte schnell das Potenzial dieser Story für eine Kammeroper, die er 1986 schrieb und im Oktober dieses Jahres in London uraufführte. Nun ist sie im Heidelberger Zwinger1 zu sehen. Anna Shadad inszenierte sie als Kammerspiel, das vor dem Vorhang – in der Arztpraxis – beginnt, und dann langsam, mit jedem Vorhang, der beiseite geschoben wird, immer tiefer in die Geheimnisse dieser Krankheit eindringt. Die drei Personen stehen dabei stets im Mittelpunkt: Chaz‘men Williams-Ali (Bariton) als neugierig-sensibler Arzt Dr. S. und Ipca Ramanovic (Tenor) als sein sehr distinguierter Patient Dr. P. sowie dessen Frau (Ulrike Machill, Sopran), die ebenso liebevoll wie nachdrücklich um ihren Mann bemüht ist, bilden rasch einen sich immer schneller drehenden Kosmos an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn. Sängerisch glänzen alle drei Vokalisten, die auf engem Raum immer auch überzeugende Darsteller sind und sein müssen. Denn die Aufführung steht und fällt mit ihrer Bühnenpräsenz – und diese ist im kleinen Studio des Zwinger1 bestens gegeben.

Die sieben Musiker (Streicher, Klavier und Harfe) sind mit dem jungen, aus Kiel stammenden Dirigenten Paul Taubitz, der seit Beginn der Spielzeit 2020/21 als 2. Kapellmeister und Assistent des Generalmusikdirektors in Heidelberg engagiert ist, auf einem Balkon hinter der Bühne aufgestellt; die Koordination mit den Sängern funktioniert über Monitore. Taubitz hat die musikalische Seite der Produktion gut im Griff. Nymans minimalistische, gut einstündige Komposition integriert auch Lieder von Robert Schumann wunderbar die Szene, in der Dr. P. zusammen mit seinem Arzt "Ich grolle nicht" aus der "Dichterliebe" anstimmt – und kann durchaus dramatische Töne anschlagen (etwa wenn es um die Malerei des Patienten geht, die seine Frau vehement verteidigt).

Das Werk ist also ein lohnendes Stück moderner Opernliteratur und lenkt den Blick wieder auf den Neurologen Oliver Sacks, selbst wenn seltene Krankheiten mit skurrilen Erscheinungsformen heute insgesamt – etwa durch TV-Serien wie "Ella Schön" – bekannter sind und auch besser untersucht sind, als sie es noch in den 1980er Jahren waren.

Info: Weitere Aufführungen am 22. und 29. Mai im Heidelberger Zwinger1. Karten: 06221/582-0000.

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