Am Boden zerstört: Miljenko Turk singt und spielt Walter Benjamin in Peter Ruzickas Oper "Benjamin". Foto: Sebastian Bühler
Von Matthias Roth
Heidelberg. Er sieht ihm unglaublich ähnlich, diesem "Walter B.", wie er in der Partitur heißt, der Hauptfigur der Oper "Benjamin" von Peter Ruzicka. Der Kölner Bariton Miljenko Turk, dem im Prolog ein Bart angeklebt und eine Brille aufgesetzt wird, verwandelt sich auf offener Bühne in den Philosophen Walter Benjamin, um dessen Leben und Denken es hier geht. Aber auch "Bertolt B." ist gut getroffen, und Kammersänger Winfrid Mikus stapft Zigarre schmauchend in schön gebügelter Arbeiterkluft (Kostüme: Inge Medert) über die Bretter, auf denen die Welt verhandelt, aber nicht abgebildet wird: Keine Klippen von Portbou, kein Moskauer Lokalkolorit stören die Szene.
Nur eine Reihe Stühle stellt Bühnenbildnerin Anne Neuser entlang der Wände, ein paar Tische dienen als Ablagen, eine Lampe, ein Suppentopf, einige Teller und andere Accessoires deuten die jeweilige Szene an. Mehr braucht Regisseur Ingo Kerkhof nicht an Äußerlichkeiten, um die "Sieben Stationen" im Leben Benjamins auf die Heidelberger Bühne zu bringen. Und es gelingt ihm bis zum Schluss, den Spannungsbogen zu halten, wobei er der Musik auch Raum zur Entfaltung lässt (etwa wenn Benjamin zum "Jerusalem"-Fernchor einen Plan auf den Boden zeichnet). Denn wirkliches Musik-Theater spielt sich vor allem in Klängen ab. Kerkhof weiß das, im Gegensatz zu vielen Regie-Kollegen.
"Benjamin", Ruzickas dritte Oper um signifikante Persönlichkeiten der deutschen Kulturgeschichte (nach "Celan" und "Hölderlin"), ist in Heidelberg als Zweitinszenierung nach der Uraufführung in Hamburg 2018 zu sehen und zu hören: Es ist ein Ereignis. Allerdings eines, das nicht auf knallige Effekte setzt.
Sieben Bilder und vier, zum Teil sehr umfangreiche orchestrale "Zwischenspiele" zeichnen Benjamins Begegnungen mit Hannah Arendt (Shahar Lavi), Bert Brecht, dem jüdischen Mystiker Gershom Scholem (James Homann) und der jungen Marxistin Asja Lacis (Yasmin Özkan) nach, in die sich Benjamin unsterblich verliebt, während seine Frau Dora (Denise Seyhan) eine beinah störende, hindernde Nebenrolle spielt.
Dabei wird Benjamin zerrieben zwischen theologisch-marxistischer Gedankenwelt und dem "Engel der Geschichte", zwischen seiner Schriftstellerei und der Flucht vor den Nazis. Das Ende in Portbou ist bekannt und legendenumwoben. Dabei sind die Verführungen groß und musikalisch stark in Szene gesetzt: Wenn Asja auftritt und die "Bolschewistische Revolution" viele Takte lang mit aberwitzigen Koloraturen besingt (später klettert ihr Jubel des "Moskauer Horizonts" bis zum hohen E hinauf!), da geht Benjamin in die Knie vor Entzücken und hilft beim Suppeausteilen. Wer könnte da auch widerstehen? Brechts Lobgesang auf die allwissende Kommunistische Partei und Scholems Visionen vom Judenstaat pariert Benjamin geistreich, aber die stalinistischen Schauprozesse sowie Asjas sozialistischer Kinderdrill lassen ihn den Glauben an eine menschengerechte sozialistische Zukunft schnell verlieren.
Nicht gewappnet ist Benjamin allerdings gegen die eigenen Erinnerungen, die ihn auf der Flucht einholen: gegen das "Wunderhorn"-Lied vom "Bucklicht Männlein" oder Duparcs berühmte Vertonung des Baudelaire-Gedichts "L’invitation au voyage", das Peter Ruzicka im Original zitiert: Hannah singt es in reinem c-Moll, aber das Lied zerfasert sich im Laufe der letzten "Station", die zum Sextett sich weitet und den tief berührenden Schluss der Oper bildet. Benjamin verschwindet schließlich von der Bildfläche, während die Musik erstirbt.
Die am Epischen Theater Brechts orientierte Inszenierung von Ingo Kerkhof steht auf einer sicheren Basis: den exorbitanten darstellerischen und sängerischen Fähigkeiten von Ensemble, Chor und Kinderchor (Einstudierung und Leitung Ines Kaun) sowie des Philharmonischen Orchesters Heidelberg, dessen Schlagzeuger über Lautsprecher vom Orchesterprobenraum live zugespielt werden. Die Klangbalance ist dabei naturgemäß schwierig, und der Sound der Perkussionisten (Kodirigent: Johannes Zimmermann) bleibt im Marguerre-Saal insgesamt etwas unterbelichtet. Sonst aber hat Dirigent Elias Grandy das große Werk absolut sicher im Griff. Die Ensembleleistung ist grandios, und Miljenko Turk ist ein herausragender Benjamin.
Dieser 90-minütige Abend wird in Erinnerung bleiben und scheint - das ist ja für die Theater heute äußerst wichtig - in jeder Hinsicht in jeder Kategorie preisverdächtig. Der anwesende Komponist war beeindruckt und wurde wie alle Ausführenden vom Publikum gefeiert.
Info: Weitere Aufführungen am 17. Februar und 7. März. Kartentelefon 06221/58-20000